Rätselflair durch Braindance
Zu diesem erzählerischen und visuellen Brainfuck gesellt sich in Cyberpunk 2077 auch der reale Braindance. Ein neues Filmformat – dagegen ist VR nix: Denn man schlüpft samt aller Emotionen in die Erinnerungen einer anderen Person, man erlebt also alles aus ihrer Sicht, darunter bedrückende Erlebnisse wie Entführungen samt Operationen oder Anschläge. Trotzdem ist es gut, dass das auch Teil des Spieldesigns ist. Denn man kann wie ein Detektiv in diesen aufgezeichneten Erinnerungen nach Hinweisen suchen, indem man vor- und zurückspult, stoppt und zoomt. Findet man heraus, wer die Täter sind oder wie ein Terrorist durch die Sicherheitszone gelangte?
Dabei kann man zwischen visuellen, akustischen und thermalen Spuren wechseln, um z.B. eine Wärmequelle zu finden oder ein Gespräch zu belauschen. Zwar sind die Indizien meist schnell gefunden, aber so entsteht über den Braindance etwas investigatives Rätselflair. Das gibt es ansonsten auch beim Auskundschaften, wenn man eine Drohnen-Spinne fernsteuert oder beim Hacken, wenn man in einem Minispiel die richtigen Zahlen finden muss. Und was verbirgt sich hinter den Tarot-Karten, die ich nach dem Scannen von Graffitis erlange? Nichts davon ist in der Ausführung komplex, manches wird leider stumpf markiert, aber es lockert auf. Denn dieses Night City strotzt ansonsten nur so vor Sex und Gewalt, lässt es over the top in der Action krachen. Wenn man die Weltkarte öffnet, tummeln sich in jedem Stadtteil dutzende Icons, die für Polizei-Einsätze, Hilferufe, Auftraggeber oder unbekannte Ereignisse stehen…
Hollywood-Action und Ruhe
Es gibt viel Großartiges, vor allem hinsichtlich der Inszenierung: Man erlebt Dialogszenen mit schauspielerischer Darbietung auf Filmniveau, sitzt als Beifahrer in rasanten Verfolgungsszenen à la Hollywood und ist mittendrin in Schießereien, in denen es vor Projektilen und Splittern nur so hagelt. Spätestens wenn man an einem japanischen Karneval teilnimmt, bei dem riesige Wagen in der Form von Samurai-Helmen mit virtuellen Koi-Projektionen durch Night City ziehen, staunt man nicht schlecht, dreht die Kamera und freut sich über den Fotomodus.
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Der Hexer sah schon cool aus, aber hatte natürlich Limitierungen. In diesem Szenario toben sich die Artdesigner auf höchstem Niveau aus. Wenn man so möchte, lässt CD Projekt RED so richtig die Muskeln spielen und demonstriert, dass man all das kann, was die The Last of Us‘, Grand Theft Autos oder Call of Dutys sonst zeigen. Also lehnt man sich zurück und genießt die Show – die aber letztlich Beiwerk ist. Denn was wichtiger ist: Es gibt es auch ruhige Momente, dazu klasse Nebenmissionen à la Deus Ex und so einige Geheimnisse, die man nur entdeckt, wenn man genauer hinsieht – und eben nicht nur abgrast.
Ich habe auch deshalb so lange für diesen Test gebraucht, weil man sich abseits der Hauptstory regelrecht verlieren kann – mehr noch als in The Witcher 3 mit seinem viel zitierten Roten Baron. Dieses Cyberpunk 2077 ist im Vergleich zu einem Grand Theft Auto weniger dieser Spielplatz, auch in einem Yakuza gibt es mehr „belanglose“ Nebenbeschäftigungen, sondern viel mehr ein Erzähler. Man beobachtet die Stadt eher, als dass man sich überall einfach so bespaßt. Man kann zwar irgendwo was essen, in den Boxring steigen (gegen synchron agierende Zwillinge) oder an Wettrennen teilnehmen, aber weder in Minispielen Pachinko oder Karten spielen noch eine Peepshow ansehen oder mal eben Sex haben – in Nebenmissionen allerdings schon. Es sind die kleinen Geschichten, die leisen Töne, die mal witzigen, skurrilen oder traurigen Situationen, die das Erlebnis bereichern.