Emotionale Dramen abseits des Krieges
Man erlebt zudem überaus dramatische familiäre Abenteuer innerhalb der großen Hauptquests, die einem sowohl wichtige Charaktere näher bringen als auch dazu animieren, Geralt eher kalt und abweisend oder doch verständnisvoller zu spielen. Man kann diesem archetypischen Helden also durchaus eine individuelle Persönlichkeit geben, die sich dann auch auf die Beziehungen zu anderen auswirkt. Er muss sich nicht nur mit Flüchen und Monstern, sondern auch mit Tragödien befassen, die die Spielwelt abseits des Krieges mit Alkoholismus, Gewalt und Ehebruch auf menschlicher Ebene greifbarer machen. Wann heiligt der gute Zweck die bösen Mittel? Ist die Liebe wichtiger als die Menschlichkeit?
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Dazu gehört als Leitmotiv der Story natürlich auch die Suche nach Ciri. Erneut geht es um die Beziehung eines männlichen Beschützers zu einem jungen Mädchen, ähnlich wie in The Last of Us, Bioshock Infinite oder auch The Walking Dead. Aber CD Project RED lässt die beiden zunächst nur im Prolog zusammen auftreten, trennt sie dann und nutzt später mehrmals den Kniff der Rückblende, so dass man auch ohne Kenntnis der Bücher ein Verhältnis zu Ciri aufbauen sowie ihre Beziehung zu Geralt verstehen kann – und das gelingt sehr gut. Dass man diese Abschnitte aktiv spielen kann, trägt zusätzlich zur Identifikation bei, selbst wenn diese sehr linear aufgebaut und einfach zu meistern sind. Hinsichtlich des Storytellings ziehen die Polen jedenfalls alle Register.
Aquariumeffekte in der Fantasywelt
Auch wenn manche Quests emotional berühren oder so mancher Bosskampf filmisches Niveau erreicht: Das wirklich Faszinierende ist für mich der Alltag. Ich habe selten ein Spiel erlebt, das das Dorfleben so lebendig inszeniert. Frauen hängen Wäsche auf und tratschen,
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Männer sammeln Beeren oder pflügen das Feld, Kinder spielen fangen und fragen den Hexer nach seinem Schwert, andere schauen sich misstrauisch um oder kommentieren die Begegnung mit Geralt abfällig. Und wenn es Abend wird, gehen die Leute nach Hause und die Wachen streifen mit Fackeln durch das Dorf, während im Wald dahinter die Werwölfe jaulen.
Natürlich gibt es einige Klone unter den Figuren, aber Mimik und Gestik wirken selbst bei Kindern sehr natürlich. Das ist keine Copy&Paste-Idylle, sondern eine je nach Region angenehm liebevoll inszenierte. Es gibt selbst nach zwanzig, dreißig oder vierzig Stunden noch Highlights. Erst als ich z.B. den Vorort der großen Stadt Novigrad von Osten erreiche, sehe ich zum ersten Mal auch Halblinge und Elfen, die in diesen armen Außenbezirken ihren Geschäften nachgehen. Und ich will nicht zu weit ausholen, aber Novigrad ist die mit Abstand lebendigste und schönste virtuelle Stadt innerhalb der Fantasy, die mit eigenen Milieus, zig Brücken und Geschäften sowie einer Kanalisation und verfeindeten Fraktionen auftrumpft. Hinzu kommen immer wieder frische architektonische oder modische Akzente, Ankedoten und Zwischenfälle, die den Aufenthalt dort zum Vergnügen machen.