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The Sinking City (Rollenspiel) – Wahnsinn aus dem Meer

Was ist bloß mit den Leuten los? Alpträume und Wahnvorstellungen plagen immer mehr Bewohner der amerikanischen Ostküste in den 20er Jahren. Manche von ihnen wollen seltsamer Weise nach Oakmont pilgern, das nach einer Flut halb versunken und isoliert vor sich hin vegetiert. Auch der Privatdetektiv Charles Reed will herausfinden, was es mit seinen eigenen Visionen und der Anziehungskraft von The Sinking City auf sich hat.

© Frogwares Studio / Bigben Interactive / Frogwares

Statische offene Welt

Immerhin reagieren Bewohner ängstlich auf Waffen und die Polizei schreitet bei Schusswaffengebrauch ein – aber dazu gibt es keinerlei Anlass. Warum soll Charles das machen? Und wo sind mal Zwischenfälle abseits von Plünderern, die sich um Beute streiten? Wo verhalten sich denn Leute erkennbar gemäß ihrer sozialen Situation? Wo ist denn der Rassismus auf den Straßen, wenn alles friedlich miteinander herum spaziert? Zwar wird er in den Dialogen spürbar, wenn die affenähnlichen Throgmortons über die fischgesichtigen Innsmouther sprechen, die als Flüchtlinge verachtet werden, aber in der Spielwelt ist davon nichts zu sehen – eine Schwarze ist sogar Zeitungschefin. All das wirkt im Zeitalter von Red Dead Redemption 2 wie digitale Steinzeit.

Den letzten Rest an Lebendigkeit zerstört nämlich das Figurenverhalten in Gebäuden: Obwohl man in Dialogen als Neuankömmling misstrauisch behandelt wird, darf man überall, auch hinter der Theke des Wirts oder in besetzten Büros
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Die Spielwelt sieht auf den ersten Blick gut aus, ist aber auf den zweiten sehr statisch. © 4P/Screenshot
ungestraft an Kisten und Schränke, um sich mit Beute einzudecken. Das wiegt umso schwerer, weil die Bevölkerung laut Story unter Hunger & Co leidet. Aber das Spieldesign nötigt einem ja aufgrund fehlender Geschäfte oder Händler zur ständigen Sammelei, denn ohne die Materialien für das Crafting kann man weder Munition noch Heilmittel oder Fallen erstellen. Immerhin kann man die Beute nach erledigten Missionen über die Charakterentwicklung erhöhen. Apropos: Die ist auch ein Graus für alle, die auch nur etwas anspruchsvolles Rollenspiel erwartet haben!

Charakter-Entwicklung ohne Tiefe

Sobald man aufsteigt, darf man Charles Reed hinsichtlich Kampf, Körper und Geist verbessern. Ersteres macht Pistolen, Revolver, Gewehre, Schrotflinten, Granaten etc. effektiver – also all das, was Lovecrafts Anti-Superhelden fast gar nicht benutzten. Beim Körper geht es darum, dass man mehr (!) Patronen, Heilpakte & Co tragen darf oder weniger Schaden nimmt. Beim Geist schwindet dann die letzte Hoffnung auf Rollenspiel, denn da darf man tatsächlich entweder mehr Crafting-Gegenstände tragen (!) oder prozentual mehr Erfahrung gewinnen bzw. weniger schnell dem Wahnsinn verfallen oder doppelt
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Vor allem in den Straßen kann man kaum etwas entdecken oder vernünftig mit Leuten interagieren. © 4P/Screenshot
so viel Beute einsacken. Hier ist die Charakterentwicklung nur noch Sklave des auf Sammeln, Crafting und Action getrimmten Spieldesigns!

Nicht falsch verstehen: Natürlich soll Charles Reed als ehemaliger Taucher der US-Marine und Veteran des Ersten Weltkriegs auch kämpfen können! Aber muss es gleich so schnöde sein? Entweder haut man im Nahkampf ohne Zielfixierung zu, was eher für chaotische Klopperei sorgt, oder man ballert simpel aus der Distanz ohne Deckungs- oder Visierfunktionen, ohne hinterhältige Attacken oder Ausweichmöglichkeit. Ja, man kann geduckt gehen, aber hat dadurch nahezu keinerlei Vorteile, kann weder ausknocken noch direkt töten. Zwar sorgen Granaten gegen mehrere Feinde sowie Fallen für etwas Abwechslung und manche größere Kreaturen haben Schwachstellen, aber die Shootermechanik ist primitiv. Allerdings gibt es auch so einige peinliche Situationen, in denen sich Logik- und Technik-Bugs gute Nacht sagen: In der medizinischen Fakultät ist es dem Assistenten vollkommen egal, dass im Keller ein riesiges mutiertes Monster ohrenbetäubend brüllt, dem wiederum die Wände egal sind, durch die es mich angreift…