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The Sinking City (Rollenspiel) – Wahnsinn aus dem Meer

Was ist bloß mit den Leuten los? Alpträume und Wahnvorstellungen plagen immer mehr Bewohner der amerikanischen Ostküste in den 20er Jahren. Manche von ihnen wollen seltsamer Weise nach Oakmont pilgern, das nach einer Flut halb versunken und isoliert vor sich hin vegetiert. Auch der Privatdetektiv Charles Reed will herausfinden, was es mit seinen eigenen Visionen und der Anziehungskraft von The Sinking City auf sich hat.

© Frogwares Studio / Bigben Interactive / Frogwares

Eine gute Geschichte…

…sollte man so entspannt erzählen, wie man eine Pfeife raucht. Das muss nicht für jedes Spiel der ideale Einstieg sein, aber H.P. Lovecraft (1890 – 1937) nahm sich für den Spannungsaufbau seiner Geschichten genug Zeit. Er ließ seine akademisch gebildeten Helden mit aller rationalen Skepsis ermitteln, ließ dem Unheimlichen oder dem Grotesken über Andeutungn zunächst Raum zur Entfaltung. Zwar ahnte man als Leser früh, dass irgendetwas in Innsmouth oder Arkham nicht stimmte, aber der Vorhang zum Undenkbaren öffnete sich langsam – manchmal auch erst im Finale mit einem gnadenlosen Ruck, der ein aussichtsloses Grauen offenbarte.

Frogwares hat sich leider dazu entschieden wie ein Kettenraucher zu erzählen, der hastig Kippen nachziehen muss und an

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Der von Alpträumen geplagte Held ist auch unter Wasser unterwegs. © 4P/Screenshot

dessen gelben sowie zittrigen Fingern man sofort erkennt, wie es um ihn steht. Genauso zügig offenbart sich die offene Spielwelt von The Sinking City: Kaum schlüpft man in die Rolle von Charles Reed, begegnet man in Visionen riesigen Kreaturen mit Tentakeln, greift zur Waffe und sammelt Zutaten für Munition, sieht irre Kultisten am Hafen beten, ist von Octopus-Kadavern umgeben und hat es schon im ersten Auftrag als Fremder mit der mächtigsten Familie und einem Mord, mit Affengesichtern, Fischköppen und so genannten Wyldebiestern zu tun, die nicht mal ansatzweise an die verstörenden Kreaturen aus Silent Hill herankommen. Nicht weil sie so schlecht designt sind, sondern weil sie so plump auftauchen.

Schwacher Einstieg

Manchmal kann so ein hektischer Einstieg ja trügen, aber Frogwares zerstört auch in den folgenden Stunden jegliches Verwunderungspotenzial und

Call of Verwirrung:

Ursprünglich sollten die Sherlock-Holmes-Macher von Frogwares nicht dieses The Sinking City, sondern das Call of Cthulhu für Focus Home Interavtive entwickeln, das schon 2014 angekündigt wurde. Aber dann haben die Styx-Designer von Cyanide die Umsetzung des offiziellen Pen-&-Paper-Rollenspiels von Chaosium übernommen und Frogwares landete mit seinem Konzept bei Big Ben. © 4P/Screenshot

lässt die angedeutete Skepsis von Charles Reed manchmal lächerlich erscheinen. Das ist schade, denn es gibt durchaus viele Gespräche, einige interessante Figuren, bekannte Motive aus dem Lovecraft-Mythos und die deutsche Sprachausgabe kann sich auch bei den Nebenfiguren hören lassen. Die Erkundung von Oakmont beginnt Reed mit Unterstützung von Johannes van der Berg, der ihn am Hafen abholt und als einheimischer Berater fungiert.

Diese archetpyische Gestalt kann zumindest kurz die Neugier sowie mit offensichtlichen Bezügen zum „König in Gelb“ (eine Kurzgeschichte von Robert W. Chambers aus dem Jahr 1895, die auch H.P. Lovecraft inspirierte) die Hoffnung auf subtilere Entwicklungen und mehr Rätselhaftigkeit wecken, aber die Hoffnung schwindet bald. Schon in den ersten Stunden zeigt sich in den linearen Dialogen und den langweiligen bis absurden Fähigkeiten, dass das hier kein Rollenspiel mit rhetorischen Feinheiten oder interessanter Charakterentwicklung

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In den ersten Missionen ist man für den affengesichtigen Anführer der Throgmortons aktiv. Er gehört zu einer dre drei mächtigen Familien, die in Oakmont das Sagen haben, © 4P/Screenshot

wird, sondern eine Mischung aus schnöder Action, ständiger Sammelei und zumindest solider Detektivarbeit mit leichtem Horrorflair. Obwohl das fast zu viel ist: Denn nicht mal ansatzweise fühlt man sich beim Spielen derart vom kosmischen Horror beeindruckt wie bei der Lektüre von Lovecrafts Geschichten.

Für Grusel sorgt immerhin die robotische Statik in der Stadt: Da tauchen die wenigen Bewohner aus dem Nichts auf oder laufen wie ferngesteuert gegen Türen. Und es gibt keinerlei Interaktion: Man kann Bettlern nichts anbieten, kann Kotzenden nicht helfen oder Leute nach dem Weg fragen. Selbst wenn Händler etwas anpreisen, egal ob Fisch, Medizin oder Kuriositäten, steht man vor ihnen, ohne dass man sie ansprechen oder etwas kaufen kann. Und obwohl man der örtlichen Zeitung sogar ein Interview gegeben hat, bekommt man beim lauthals um Kunden werbenden Zeitungsjungen natürlich keine Ausgabe. Und falls man mal Ansprechbare findet, geben sie meist nur einen immer gleichen Satz von sich. Frogwares, was soll das im Jahr 2019 für eine offene Welt sein?