Shooter oder Survival-Horror?
Es gibt Momente, da fühlt man sich an die Projektilseligkeit von Max Payne erinnert. Es gibt sogar eine Szene, in der ihr wie an einem D-Day des Horrors durch ein Sandsacklabyrinth hetzt, während um euch herum alles explodiert und detoniert, weil schwere MGs und ein Kampfhubschrauber das Gelände durchpflügen. Man ballert sich fast in einen Rausch. Capcom spielt eine ganz neue Actionkarte aus, die die Pomadigkeit der Vorgänger klar übertrumpft. Damit geht man eindeutig neue, actionreichere Wege.
Ist Resident Evil 4 jetzt ein Shooter? Nein. Leon kann weder strafen noch manuell in Deckung gehen, vorwärts rollen oder automatische Gegner anvisieren. Er kann sich noch nicht mal auf Knopfdruck, sondern nur an bestimmten Stellen ducken. Und er zielt mit seinem roten Laser langsam, sehr langsam. Dieser Mangel an Bewegungsfinessen und die Zähigkeit beim Anvisieren verleihen dem Spiel trotz der Action einen gefährlich gemächlichen Rhythmus.

Man könnte dieses Fehlen spezieller Moves und das langsame Drehen als Kontrapunkt auflisten. Aber es ist in Wirklichkeit ein Pluspunkt für die Atmosphäre: Denn so hat das Grauen mehr Zeit, euch einzukreisen, und so habt ihr weniger Zeit, es aufs Korn zu nehmen. Bis auf eine schnelle 180-Grad-Drehung geht es immer im Schritttempo oder rennend vorwärts – aber ihr könnt euch nie gleichzeitig bewegen und schießen. Auch das schiebt einer rasanten Shooter-Orgie einen Riegel vor.
Trotzdem bietet euch Resident Evil 4 das dynamischste Erlebnis der Reihe, denn es geht auch von oben zur Sache: Ihr könnt Dächer und Türme erklimmen, um aus der Höhe zu ballern, kletternde Feinde einfach samt Leiter umstoßen, hinterher springen, Türen eintreten und nahtlos in den Nahkampf gehen. Alles in übersichtlicher Schulterperspektive, die ihr bei Bedarf mit dem gelben Analogstick anpassen könnt – echte Kameraprobleme wie in den Vorgängern sind passé.
Clive Barker im Blutrausch
Aber hat dieses hautnahe Actionerlebnis überhaupt noch was mit der alten Tradition zu tun? Ist das noch Survival-Horror? Ja. Trotz all der Projektil-Action geht es in erster Linie immer um den klassischen Cocktail aus Überleben und Erkunden, aus Action und Rätseln. Und das Stöbern in den Ecken lohnt sich: Ihr könnt in ruhigen Passagen Scheiben einschlagen, Schubladen öffnen und Kisten zertrümmern, um Schätze zu finden.
Manchmal funkeln diese Kleinode an unzugänglichen Stellen, in Vogelnestern oder auf Türmen. Außerdem könnt ihr jede Menge Rätsel lösen. Die bestechen zwar nicht mit Kopfnüssen, aber dafür mit Vielfalt: Ihr müsst Farben verbinden, Symbole erkennen, Laser ausrichten, Gegenstände verknüpfen, Puzzleteile verschieben sowie im Team Hebel- und Druckplatten betätigen oder gegen die Zeit Artefakte sammeln. Alles nichts Anspruchsvolles, aber immer eine willkommene Abwechslung.

Resident Evil 4 ist aufgrund seines Tempos zwar nicht mehr so unheimlich wie Teil 1, wo es mehr subtilen Horror gab. Aber es gibt immer noch das klassische Grauen mit trügerisch langer Stille und plötzlichen Schockmomenten – vor allem zu Beginn und am Ende im Labor. Trotzdem werden Kenner der Reihe, vor allem des einflussreichen ersten Teils, feststellen, dass diese Momente spärlicher auftauchen. Auch deshalb, weil einem nicht mehr dieses beklemmende Gefühl der Hilflosigkeit im Nacken sitzt. Man wird entsetzt und schockiert, aber man hat meist die Gewissheit, überall genug Munition zu finden, um sich freizuschießen. Es gibt bis auf die erste Spielstunde selten Phasen, in denen man seine Waffen nicht ausreichend füttern kann.
Im Zweifel hilft die Flucht
Und das ist vielleicht der größte Kritikpunkt, den man Capcom vorhalten könnte: Das Überleben wird einem zu selten in Sachen Nachschub schwer gemacht. Das war ein Markenzeichen des alten Resident Evil, das neue geht komplett andere Wege. In den Vorgängern musste man aufgrund der knappen Munition öfter mal fliehen.
Ist dieser Überschuss ein Beinbruch für den Spannungsbogen? Nein, höchstens eine Prellung. Eine, die schnell vergessen ist. Nicht nur, weil sie Frust vorbeugt. Denn erstens muss man auch jetzt fliehen: Zwar nicht aufgrund fehlender Feuerkraft, aber aufgrund übergroßer und verflixt schneller Monster, die euch wie einen Hasen durch die Gänge hetzen, während ihr Sicherheitstüren öffnen müsst – die Zeit und den Tod im Nacken.
Zweitens spielt sich Resident Evil 4 trotz der vollen Magazine wie ein virtualisierter Clive Barker-Roman: Es reiht Extremsituation an Extremsituation, lässt euch den Atem anhalten und fordert. Trotz der Projektilfülle bleibt der Motivationsfaden straff, denn das Spiel verlangt Nonstop-Reaktionen von euch und bietet viele knifflige Szenen, in denen ihr in Nullkommanichts den Löffel abgeben könnt.