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Kingdom Come: Deliverance (Rollenspiel) – Das stolpernde Rollenspiel

Verdammt lang her: Am 19. Dezember 2013 wurde Kingdom Come: Deliverance offiziell enthüllt. Kurze Zeit später startete die Kampagne zur Finanzierung auf Kickstarter, bei der 35.384 Unterstützer etwas über 1,2 Millionen Euro beitrugen. Und schließlich stieg im September 2017 Koch Media als Co-Publisher mit ein. Jetzt öffnen die Warhorse Studios endlich die Pforten in das Jahr 1403, in dem ihr ohne Drachen, Magie und Orks eine authentische mittelalterliche Welt sowie ein offenes Rollenspiel mit Konsequenzen erleben sollt. Wie präsentiert sich das Abenteuer im Königreich Böhmen auf PC, PS4 und Xbox One? Mehr dazu im Test.

© Warhorse Studios / Deep Silver

Plumpe und lebendige Reaktionen

Aber dann kann es wieder schrecklich plump werden, so dass Kingdom Come auch komplett ohne Abstürze, Speichermurks und Grafikbugs zwar im guten Bereich landen, aber sehr schwer um einen Award kämpfen müsste. Gerade im alltäglichen Ablauf gibt es einfach zu viele Inkonsequenzen en detail. Das fängt dabei an, dass oftmals ein Erfolgssymbol angezeigt, aber der Misserfolg ausgespielt wird – oder umgekehrt. Sprich: Ich habe mein Gegenüber rhetorisch überzeugt, aber er schlägt mein Ansinnen trotzdem ab! Man spricht Leute an, muss einen Ladebildschirm abwarten, nur um dann festzuzstellen, dass sie gar nichts zu sagen haben.

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Manchmal wirkt die Spielwelt zu steril: Diese Frau lässt sich weder ansprechen noch reagiert sie auf Heinrich. (PS4 Pro) © 4P/Screenshot

Ein Händlerin bietet mir etwas an, ich will kaufen, aber sie hat gar nichts. Da komme ich mitten am Tag zu einem Dorf, in dem bis auf eine Frau keine Menschenseele zu sehen ist. Ich suche die Leute auf den Feldern, im Wald, finde niemanden. Sie sitzt da und stickt, aber ich kann sie nicht ansprechen und sie ignoriert mich komplett; überhaupt wirken die Begegnungen beim Spazieren nicht so natürlich wie etwa in Horizon Zero Dawn, wo einem Leute hinterher schauen oder sofort reagieren. Auch Tiere und Fremde reagieren manchmal nicht auf Beschuss.

Angesichts der Relevanz der Farben im Mittelalter, die ja auf den Lehnsherren schließen lassen, hätte ich mir auch Reaktionen beim Tragen eines entsprechenden Wappenrocks in der Bevölkerung gewünscht. Da miete ich in einer Schenke ein Zimmer und am Morgen tritt die Wirtin ein und blökt „Hey, pass auf!“, wenn ich an ihr in den Farben ihres Fürsten vorbei gehe. Später trage ich Helm, Säbel und Rüstung eines Kumanen, die quasi als Teufel gelten, aber niemand reagiert darauf. Da weigert sich der Müller, mich auszubilden und wütet, was ich ihm angetan hätte, aber lässt mich weiter unter seinem Dach schlafen. Da werde ich angehalten, bloß nichts in einem Raum anzufassen, aber kann mir aus einem Fass sowohl wertvollen Alkohol als auch Nahrung nehmen oder aus der Rüstkammer einen Bogen. Da herrschen Hunger und Bettelei unter den Flüchtlingen, aber ich kann einfach so aus jedem Topf essen – selbst bei Fremden im Wald. Und als ich mit einem Flüchtling spreche, klagt er mir erst sein Leid, nur um dann bei der nächsten Frage über sie zu lästern; hier hat man ihm die falschen Zeilen zugewiesen.

Gerade weil man ansonsten ständig nach seiner Kleidung und Taten beurteilt wird und auf seine Nahrung achten muss, konterkarieren diese Kleinigkeiten zu oft die Immersion. Hier merkt man auch, wie wenig Erfahrung die Warhorse Studios

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Manchmal ist Heinrich auch auf Mördersuche. (PS4 Pro) © 4P/Screenshot

trotz ihrer lobenswerten Ziele im Großen mit dem Spieldesign im Kleinen haben. Trotzdem spielt Kingdom Come ganz oben in der Liga der reaktiven Rollenspiele und geht in manchen wichtigen Bereichen weiter als The Witcher 3: Es ist nicht nur so, dass man sein Gegenüber besser einschüchtern kann, wenn man in voller Rüstung mit Blutspuren oder prächtigem Wams vor ihm steht. Wer seine Waffe zückt, wird auch sofort darauf aufmerksam gemacht. Und wer einfach so in fremde Häuser eintritt, wird ebenso zurechtgewiesen und muss am falschen Ort sofort mit einem Kampf rechnen – das alles bereichert das Spielerlebnis, zumal man trotz einiger Inkonsequenzen nicht alles so stibitzen kann, weil es verschlossen in Truhen steckt. Apropos: Das Schlossknacksystem ist so sensibel, dass man selbst auf „leicht“ viele Dietriche zerbrechen wird, bevor man etwas aufschließt – das hätte man balancierter lösen müssen. Immerhin kann man diese sowie andere Fähigkeiten durch Gebrauch oder bei Ausbildern trainieren, aber leider viel zu ineffizient. Schön ist auch, dass das Geräusch des Zerbrechens theoretisch die Wachen anlocken soll, aber es praktisch zu selten passiert. Immerhin kann man im Kerker landen – danach muss man erstmal mit einigen Defiziten in seinen Werten leben. Man sieht schon: Für alles Positive gibt es auch etwas Negatives anzumerken.

Die fehlende Balance

Warum reagieren die Fürsten der Stadt z.B. gar nicht darauf, dass ich in ihrem Kerker war, obwohl sie mich einstellen wollen und gerade Für und Wider abwägen? Trotzdem ist es wiederum sehr lobenswert, dass man nicht nur je nach Ort, sondern dort auch innerhalb der sozialen Ränge der Bewohner einen unterschiedlichen Ruf unter Adligen, Bauern & Co erwerben kann, wenn man ihnen hilft. Und das wirkt sich dann z.B. auf die jeweilige Begrüßung aus: Als ich genug bei Händlern gekauft hatte, stieg der Wert auf 80 und plötzlich schallte es von überall „Hey, das ist ja der Heinrich!“ oder „Heinrich, schön dich zu sehen!“ – allerdings nervte das Heinrichen spätestens nach wenigen Metern, weil es einfach zu übertrieben wirkte und ich beim Feilschen dann schroff abgewiesen wurde. Hier wäre es schön gewesen, wenn man auch bessere Preise bekommt. Letzteres  ist aber ein gutes System, weil auch hier Kleidung bzw. Charisma wichtig sind. Und schließlich kann man so auch ein paar Groschen rausschlagen.

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Die Karte ist wunderschön illustriert. Auch Schnellreisen sind möglich. © 4P/Screenshot

Auch das Schnellreisesystem auf der Karte ist grundsätzlich lobenswert: Erstens sehen die zoombaren Karten mit ihren mittelalterlichen Malereien einfach klasse aus – und zu Beginn liegen graue Nebelwolken über dem Großteil Böhmens. Zweitens gibt es optionale Zwischenfälle, darunter Banditen, Händler oder Reisende, denen man je nach Fähigkeiten als Späher besser oder schlechter ausweichen kann. Cool: Man kann auch Wildhütern begegnen, die einen nach illegalem Fleisch durchsuchen! Aber dann gibt es wiederum einen Bug, der dafür sorgt, dass man sich keine Sorgen machen muss: Sobald man in einen Kampf gezwungen wird, kann man sofort wieder die Schnellreise aufrufen und weiter ziehen – das hätte man verhindern müssen.

Es sind die Details, die die Freude über eine gelungene Szene dämpfen können – dazu gehören auch so manche aufgezwungene Dialoge, die man gerne anders ausgespielt hätte. Warum habe ich z.B. nicht die Wahl, wie ich auf die blöde Anmache des jungen Fürsten Hans reagieren will? Heinrich flippt vollkommen übertrieben aus, obwohl er angesichts seiner Stellung und Situation eher klein bei geben müsste – kein gutes Rollenspiel. Aber dann wird es plötzlich richtig gut: Als ich dem arroganten Hans später bei der Jagd helfen soll, demonstrieren die Warhorse Studios erneut ihre gute Charakterzeichnung, denn man kann den Schnösel plötzlich besser verstehen und er scheint kein ganz hoffnungloser Fall zu sein. Auch Daniel Vávra hat sich selbst sehr überzeugend im bärbeißigen Fürsten Hanusch von Leipa getroffen, der einige klasse Szenen hat, kein gutes Haar an der Doppelmoral der Kirche lässt und stellenweise an den Roten Baron aus The Witcher 3 erinnert.