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Heavy Rain (Adventure) – Heavy Rain

Es war einmal im Mai auf einer E3. Da haben ein paar Franzosen für Aufruhr im fernen Amerika gesorgt. Sie hatten allerdings weder einen Shooter noch Bin Laden oder einen Spielberg im Gepäck – bloß ein „Casting„. Vier Minuten Film, in denen eine Frau nervlich zusammen bricht. Diese kleine Szene war so bewegend, dass sie große Hoffnungen weckte: Könnte das junge Medium irgendwann mal seine audiovisuelle Kraft ausspielen und bewegende Geschichten erzählen? Könnte das Videospiel zum interaktiven Drama für Erwachsene reifen?

© Quantic Dream / Sony

Offene Spielstruktur

Ethan muss fünf Aufgaben bestehen, um seinen Sohn zu befreien. Wie weit wird er gehen?

Natürlich ist das kein ganz offenes Spiel, denn es gibt optische Schranken und inhaltliche Bahnen – wenn sich eine Szene aufbaut, kann man zwar die Bühne variabel mit seiner Interpretation von Scott Shelby oder Ethan Mars füllen, vielleicht sogar über Leben und Tod entscheiden, aber der Ausgang ist meist vorgegeben. Und es besteht kein Zwang zur perfekten Serie. Sprich: Auch wenn man innerhalb einer Flucht mal ein Hindernis nicht überspringt oder während eines Kampfes den Haken nicht blocken kann, ist das noch kein Beinbruch. Die Actionszenen sind so ausgelegt, dass man auch mit ein, zwei Fehlschlägen erfolgreich durchkommen kann, so dass nerviges Trial & Error kaum aufkommt – allerdings kann ein Scheitern auch fatale Folgen haben. Es gibt drei Schwierigkeitsgrade. Und jeder, der sich nur etwas mit Spielen auskennt, sollte gleich den höchsten wählen – dann werden die unterm Strich zu leichten Kämpfe in den knapp acht bis zehn Stunden Spielzeit etwas anspruchsvoller.

Es gibt auch Situationen, in denen man sich etwas mehr geografische und investigative Freiheit gewünscht hätte: Als man z.B. als FBI-Profiler einen möglichen Ort identifiziert, an dem der Täter vielleicht seine Origami-Vorlagen eingekauft hat, darf man diesen nicht besuchen. Warum kann man den Laden nicht untersuchen? Es gibt (bis auf eine Situation im Finale) nie eine Art Karte, auf der man eine Route oder ein Ziel auswählen kann – dieser Hauch von Open World à la Shenmue <a class="DYNLINK" onmouseover="DynToolTipp_Show('Klicken für Gameinfos‚)“ onmouseout=“DynToolTipp_Hide(); “ href=“javascript:DynCont_Display(‚Gamefinder‘,’runmod.php?sid=%7BSID%7D&LAYOUT=dyncont_gf&spielid=548′)“>

und etwas mehr eigene Ermittlungslogik über klassische Rätsel hätte Heavy Rain vielleicht noch faszinierender gemacht. Es gibt ja den visuell eindrucksvollen Ansatz dazu: Norman sammelt mit seinem virtuellen Analysetool ARI („Added Reality Interface“) Indizien und Gegenstände, kann Reifenspuren analysieren, Filme auswerten und Karteien durchforsten. Aber all das läuft eher automatisch ab, denn er muss die Fakten nicht wie in CSI logisch verknüpfen.

Kein Point&Klick

Nur FBI-Profiler Norman kann Indizien sammeln und analysieren.

Kombiniere Tesafilm mit Gartenzaunloch und scheuche die Katze mit der Sirene auf, damit diese hindurch jagt und ihre Haare am Kleber hängen bleiben, damit man sich einen Schnurrbart basteln kann? Nein, das vermisst man nicht. Aber Heavy Rain nutzt das Rätsel- und Verknüpfungspotenzial des ARI nicht ganz aus, obwohl das Spiel einige klassischere Momente anbietet: Mal muss einen Gegenstand von A nach B bringen, um dort etwas von Person C zu erfahren. Mal muss man kriechend durch ein Labyrinth aus Glasscherben, ohne dabei drauf zu gehen. Und sehr oft ist einfach Geschick, ein gutes Auge oder das Gedächtnis gefragt, wenn es um das Passwort eines Computers geht – es gibt also unterm Strich mehr Rätsel als noch in Fahrenheit.

Und das Drehbuch der vorgegebenen Pfade ist so genial, dass man diesen Wunsch nach mehr Kombinatorik zunächst gar nicht verspürt. Vor allem in der ersten Hälfte werden so die Fäden und Köder für die Geschichte sehr clever ausgelegt, ohne dass man sie ablehnen oder um sie herum entscheiden könnte. Allerdings hat man trotzdem das Gefühl, sich mit jeder Minute auf offenes Terrain zu begeben: Die Schauplätze sind zwar faktisch nicht sehr groß, aber die Illusion der Großstadt ist immer da. Das Umfeld wird über Unschärfe und architektonische Horizonte visuell sehr geschickt eingefangen, so dass man immer einen Ausblick in die Distanz hat. Und im letzten Drittel können die straffen Fäden plötzlich an einigen Stellen reißen, so dass man je nach Konflikt ein ganz anderes Finale mit anderen Überlebenden sieht. Richtig: Es gibt kein Game Over, denn selbst der Overkill aller Hauptpersonen kann ein mögliches Ende sein. Man spielt also mit diesen Toten im Nacken weiter, wobei sich ihre fehlenden Ermittlungen auf den Spielverlauf auswirken – wer den FBI-Profiler in einem Kampf verliert, darf auch nicht mehr auf seine Hinweise hoffen, die er über sein Hightechtool gewinnen kann. Und je nachdem, mit welchen Lebenden und Entscheidungen man die letzten Kapitel erreicht, ändert sich auch das Finale.

In Konfliktsituationen kann es zu interaktiven Kämpfen kommen, in denen man Reaktionstests meistern muss.

Entscheidungen und Handlungen wirken sich also spürbar aus: Auf der einfachsten Ebene kann man davon ausgehen, dass man einen Hinweis oder einen Gefallen bekommt, wenn man jemandem vorher hilft. Hier zeigt das Medium Videospiel endlich bewegliche Muskeln, die der lineare Film gar nicht erst anspannen kann. Der Wiederspielwert ist hoch, zumal man jede Situation auf dem Weg zum Ziel anders, teilweise auf drei Arten erleben kann. Ein Beispiel: Wer in der Rolle von Madison den zwielichtigen Arzt besucht, kann die Szene mit seinem Verhalten so stark beeinflussen, dass sie nichts weiter als eine ganz kurze Visite, ein unangenehmes Gespräch oder ein schrecklicher Horrortrip à la Saw wird – und diese Offenheit gibt es in vielen Kapiteln. Kein Wunder, dass all die Alternativen für ein 2000 Seiten starkes Drehbuch gesorgt haben. Und selbst ohne diese motivierende Dynamik würde dieser Besuch für sich schon begeistern, denn er wird atmosphärisch eindringlich und auf schauspielerisch höchstem Niveau inszeniert.

Ein großes Lob muss neben der unheimlich stimmungsvollen Musik, die mal traurig und trostlos im Hintergrund fließt, sich mal bedrohlich und finster zusammen ballt, auch an die deutsche Lokalisierung gehen: Die auf Wunsch einblendbaren Untertitel sind sauber und die Sprecher leisten angesichts der vielen emotionalen Momente Großartiges. Man kann zwar jederzeit, auch innerhalb einer Szene, auf die spanische, französische oder englische Sprachausgabe wechseln, aber ich habe das trotz der Ernüchterung angesichts der im Vergleich zum Angelsächsischen zu weich wirkenden Stimme Ethans irgendwann nicht mehr gemacht: Erstens passt auch seine Tonalität später immer besser zum Charakter, zweitens überzeugt nahezu der komplette Rest der Besetzung mit erstklassiger akustischer Schauspielerei – der cholerische Officer Blake, die clevere Madison und vor allem Scott Shelby werden im Deutschen hervorragend getroffen.