Aber es ist genau dieser Überfluss, das Streben nach Perfektion, an dem Rapture zugrunde ging. Denn Ryans Vision eines Reiches, in dem der Wille des Individuums als oberstes Ideal regiert, bleibt eine Utopie. Gib dem Menschen alle Freiheit, die er wünscht – und sie wird ihn ins Verderben stürzen. Denn schnell entdeckten Ryans Wissenschaftler das von einem Parasiten erzeugte Adam, mit dem sie genetische Veränderungen vornehmen können. Adam wurde zur Droge einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne schöner, besser und stärker werden wollte. Aber die Experimente gingen zu weit, die Menschen trugen irreparable Verunstaltungen davon, ihr Gedächtnis wurde ausgelöscht. Sie mutierten zu grässlichen Monstern, die sich wie Tiere auf Adam stürzen, sobald sie es nur riechen. Wie widerlich sich ein Mensch ohne die Zügel einer führenden Instanz verhalten kann, verdeutlicht Levine mit der Ausgeburt eines „Künstlers“, der Lebende in Statuen gießt. Eine an ihrem Esstisch in Gips gefangene Familie zeigt, wie weit er zu gehen bereit ist. Die Oberen entziehen sich freilich ihrer Verantwortung und flüchten in sichere Verstecke: Der paranoide Andrew Ryan ist – an Wahnsinn grenzend – noch immer von seinem Utopia überzeugt, während ihm der machthungrige Fontaine die Fäden aus der Hand reißen und
das lukrative Monopol auf Adam übernehmen will.
Der innere Dämon
Als unbekannte Größe stolpert der Spieler so in eine von Intrigen durchzogene Welt, die er nur aus einer entfernten Quelle – durch Aufzeichnungen in Form liegen gelassener Tonbänder oder Funksprüche – kennenlernt. Direkter Kontakt mit zentralen Figuren findet nur an speziell inszenierten Höhepunkten statt: Wenn er auf den erwähnten Künstler oder einen Chirurgen trifft, der den perfekt geformten Menschen schaffen will. Auf diese Art schafft Levine eine Distanz, die dem Spieler genug Freiraum zur Interpretation lässt, dass er vollständig in der Situation des Protagonisten aufgehen kann. Selbst seinen einzigen Verbündeten, einen Mann namens Atlas, lernt er nur über Funkkontakt kennen. Atlas hilft ihm, sich zurechtzufinden, er weist ihm den Weg und führt ihn zum Ausgang – verlangt aber einen Preis: Er soll Atlas‘ Familie befreien, die sich nach einem Angriff der Splicer verschanzt hat.
Splicer, das sind die verbliebenen Einwohner von Rapture. Etwas lapidar erklärt das Handbuch, dass sie „allem Unbekannten extrem aggressiv gegenübertreten“ – tatsächlich dient es natürlich dazu, den kämpferischen Inhalt zu rechtfertigen. Im Kern ist BioShock schließlich ein Ego-Shooter, der sich anders als Thief ohne Gewalt nicht lösen lässt. Allerdings zeigt sich der Autor auch auf diesem Gebiet als Meister seines Fachs: Maschinengewehre rattern durch die Hallen von Rapture, aus Schrotflinten donnern dumpfe Feuerstöße, die mächtigste Waffe friert Gegner in einem klirrenden Eisstrahl ein, die Herzen der „Generation CounterStrike“ schlagen höher.
Aber in BioShock stehen die packenden Feuer-Gefechte nicht im Vordergrund: Man darf sich zwar ganz herkömmlich durch Rapture kämpfen, doch der eigentliche Reiz liegt darin, seinen eigenen Weg zu finden. Nicht zuletzt ist Munition meist knapp, was aus jedem Schritt
unmerklich ein vorsichtiges Vorantasten macht. Dass es für jede Waffe drei unterschiedliche Kaliber gibt, hilft dem geschickten Kämpfer – eher früher als später muss das Magazin jedoch gewechselt werden… Die einzige Wahl, die Levine dem Protagonisten lässt, ist erneut das Verinnerlichen des eigentlich dämonischen Elements: Jack injiziert sich selbst die genetischen Veränderungen. Nur so kann er es mit den mutierten Kreaturen aufnehmen, und nur so hat er genug „Munition“, um auch einen massiven Angriff der intelligenten Mutanten abzuwehren. Sicher: Drei gezielte Schüsse mit dem Granatwerfer schalten selbst große Gruppen aus, doch was, wenn die verletzten Splicer an medizinischen Notfall-Stationen ihre Wunden heilen? Was, wenn sie das vom Spieler unter Kontrolle gebrachte Sicherheitssystem hacken, und was, wenn sie nach einem Stoß mit dem Flammenwerfer ins rettende Wasser flüchten? Für einen gestählten Söldner vielleicht kein Problem, ein umsichtiger Spieler greift jedoch zu anderen Mitteln.
Hacker oder Soldat?
Erreicht ein Gegner das Wasser, jagen überlegte Spieler z.B. einen Stromstoß in das Nass – der Splicer wird elektrisiert. Ein Hieb mit dem Schraubenschlüssel streckt ihn jetzt nieder. Eine andere Variante ist das in Brand setzen von Öllachen und darauf stehenden Feinden, das Vereisen oder gegenseitige Aufhetzen von Splicern, oder die Kombination aus Telekinese, Gasflasche und Gegner – in dieser Reihenfolge. Nützlich ist auch das Knipsen von Fotos, denn mit jedem Lichtbild erhöht sich das Verständnis für die Schwächen der Einwohner und damit die Schlagkraft gegen fotografierte Wesen. Das Aufstellen von Fallen wie elektrischen Stolperdrähten oder Minen, die bei Annäherung explodieren, sorgen drohender Gefahr sogar vor. Die Möglichkeiten sind fast grenzenlos und trotzdem über einen einzigen Knopfdruck erreichbar.