Das Sträuben der Kritik
Als Magnavox vor 35 Jahren den ersten Spieleautomaten vorstellte, war ein neues Medium geboren. Ein Medium, dem es nicht genug war, Bilder zu zeigen, aus Tönen Musik zu machen oder mit Wörtern Geschichten zu erzählen. Ein Medium, das die Mittel der Literatur, der Malerei, der Liedermacher, des Hörspiels sowie des Kinos vereint und seine Rezipienten mit einbezieht. Aber gerade der letzte, der innovativste Aspekt brachte die Video- und Computerspiele ins Kreuzfeuer einer konservativen Kritik, die den Sprung vom teilnahmslosen Betrachter zum aktiven Teilnehmer oft nicht wagt und die nicht versteht, dass hinter einem solchen Werk mehr stehen kann als der zum Selbstzweck
erhobene Akt des Tötens. Es ist eine Kritik, die sich im Kern dagegen sträubt, das Medium als Kunstform zu akzeptieren. Es ist eine Kritik in der Ära vor BioShock.
Auch Ken Levine, einst Drehbuch- und Theaterschreiber und kreativer Kopf hinter Thief (in Deutschland als Dark Project bekannt) sowie System
Shock 2, musste erst reifen, bevor er sein Meisterstück verwirklichen konnte. Während er und sein Studio Irrational Games – seit neuestem als 2K Australia und 2K Boston bekannt – zum größten Teil Auftragsarbeit wie SWAT 4 oder Tribes: Vengeance verrichteten, riss Levine schon in den erstgenannten Titeln sein zentrales Thema an: das Dilemma zwischen technologischem Fortschritt und der Gefahr, die von dessen unabdingbarer Voraussetzung, menschlicher Kreativität, ausgeht. Während im mittelalterlichen Thief so die bevorstehende Industrialisierung unheilschwanger über einer verklärten Fantasy-Mystik schwebt, erschafft System Shock 2 grausige Mutationen – Ergebnisse biologischer Experimente eines überlegenen Supercomputers. Weder Thiefs Protagonist Garrett noch der Hacker in System Shock 2 können sich dabei den technologischen Errungenschaften entziehen und müssen fortschrittliche Hilfsmittel nutzen, um gegen ihre Widersacher gewappnet zu sein. Beide stehen somit symbolisch für Levines warnende Botschaft.
Von außen und von innen ein Traum: Wo sonst, wenn nicht am Meeresboden, hätte Andrew Ryan seine Vision verwirklichen können?
BioShock greift das Thema fast unverändert auf; tatsächlich erinnern seine erzählerische und spielerische Struktur so frappierend an System Shock 2, dass der Eindruck entsteht, der Autor (Levine wird unter „Story, Writing and Creative Direction“ aufgeführt) konnte das Konzept vor acht Jahren zwar inhaltlich, aber nicht technisch verwirklichen und wollte seine Vision deshalb vervollständigen. So schlüpft der Spieler erneut in die Rolle eines Mannes, welcher – obwohl ein Kind der Zeit der Handlung – in einer ihm fremden Welt ausgesetzt wird. Jack ist der Name des Protagonisten – ein nichts sagender Allerweltsname, der es dem Spieler leicht macht, sich in die Rolle des vermeintlichen Helden zu denken. Seine einzigen Worte sind ein Zitat seiner Eltern: „Sohn, du bist etwas Besonderes. Du wirst große Taten vollbringen.“ Mehr Zeit bleibt ihm nicht, bevor sein Flugzeug im Atlantik versinkt. Wie durch ein Wunder ragt dort, inmitten brennender Trümmerteile, ein dunkler steinerner Turm aus dem Wasser. Ihm bleibt keine andere Wahl, als Rapture, das von einem genialen Visionär erschaffene Utopia, unter dem geheimnisvoll anschwellenden Orchester zu betreten.
Es ist nicht neu, dass man als Spieler einer Handlung ähnlich engstirnig folgen muss wie der eines Buches oder Films. Allerdings liefert BioShock genau dafür die vielleicht glaubwürdigste Erklärung seit 35 Jahren. Gerade weil es den Spieler zwingt, sich dem Spiel zu unterwerfen, fordert es ihn heraus, sich frei zu entscheiden. Es ist unmöglich, dieses Paradoxon aufzuschlüsseln, ohne die Geschichte vorweg zu nehmen. Doch BioShock
macht aus dem unbeteiligten Rezipienten ein denkendes Individuum – was in einem hervorragenden antiklimatischen Höhepunkt gipfelt.
Dekadente Augenweide
Natürlich ist der psychologische Rahmen aber nur ein Gerüst, welches die gewaltsame Flucht aus Rapture rechtfertigt. Denn oberflächlich gesehen ist die Suche nach einem
Ausgang der einzige Antrieb des Protagonisten. Schließlich ist die von Andrew Ryan
geschaffene Stadt auf dem Meeresboden ein vom Zerfall zerfressenes Metropolis: Längst überflüssige Durchsagen kratzen aus alten Lautsprechern,
Besonderheiten der PC-Version – schärfere Darstellung dank höherer Auflösung – keine echten Unterschiede zw. DX10 & DX9 – 360-Pad wird erkannt, Steuerung angepasst – Probleme mit Widescreen-Darstellung – keine Kantenglättung |
der Ozean dringt durch feine Ritzen, ganze Räume stehen unter Wasser, zerbrochene Neon-Fassaden künden oft nur als Nachruf vom vergangenen Wohlstand. Die Gebäude sind hingegen in weiten Teilen noch intakt: Wolkekratzer strecken sich hinter den bunten Glaskuppeln hoher Dächer der Wasseroberfläche entgegen. Giftiger grüner Dunst wälzt sich durch botanische Gärten, die einst Erholungszentren waren. Matt gefärbte Plakate werben an glänzenden Kacheln für genetische Modifikationen. Irrational erschafft eine völlig neue Welt, in der sie mit Art Deco eine Stilrichtung aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederbeleben und so überwältigend in Szene setzen, dass BioShock deren Renaissance einleiten könnte. Satte Farben, weite Hallen, geschwungene Pfeiler, feine Verzierungen, Musik aus den 50er Jahren – jeder Winkel scheint liebevoll von Hand gestaltet, die überbordende Dekadenz ist trotz selten fehlender Details auf den Oberflächen einzelner Objekte eine Augenweide!