Veröffentlicht inTests

Vampyr (Rollenspiel) – Kämpfe, Bisse, Dialoge

Anfang 2015 kündigte der französische Entwickler Dontnod (Remember Me, Life Is Strange) an, dass er an einem Action-Rollenspiel über Vampire arbeiten würde – knapp drei Jahre später ist Vampyr für PC, PS4 und Xbox One erhältlich. Und die Vorfreude auf die Blutsauger ist groß: Vielleicht kann das im London des Jahres 1918 spielende Abenteuer ja sogar die große Lücke füllen, die der Klassiker Vampire: Die Maskerade – Bloodlines seit 2004 hinterlassen hat?

© Dontnod Studio / Focus Home Interactive

Aussaugen oder nicht?

Ein praktischer Nebeneffekt der gesammelten biografischen Hinweise ist, dass damit auch das Blut wertvoller wird. Sprich: Wer voll entschlüsselte Bürger aussaugt, bekommt deutlich mehr Erfahrungspunkte, mit denen man umgehend viele coole Fähigkeiten freischalten kann. Allerdings kann man zu Beginn nicht jeden auf diese Art töten, denn man muss sein Opfer zuerst „mesmerisieren“, also hypnotisieren. Diese nach Anton Franz Mesmer (1734-1815) benannte Methode beherrscht Jonathan zunächst nur schwach auf erster Stufe und muss erstmal an Kraft gewinnen, um besonders starke Charaktere als Bluthappen einfach so in dunkle Gassen zu führen. Aber will man überhaupt töten? Immer wieder serviert einem die Story moralische Vorlagen, wenn man etwa skrupellose Mörder oder ihre Kinder quälende Eltern entlarvt…haben sie den Tod nicht verdient?

Aber man hat stets die freie Wahl und muss theoretisch niemanden auf diese Art umbringen. Allerdings bleibt der Widerspruch, dass man ohne Konsequenzen weiter dutzende menschliche Wachen dahin metzeln kann! Trotzdem wird es

[GUI_STATICIMAGE(setid=83912,id=92566499)]
Jonathan ermittelt auch mal in Mordfällen. © 4P/Screenshot

einem auch abseits der erzählerischen Motive schmackhaft gemacht, die Bürger umzubringen: Denn das Spiel, das nur einen Schwierigkeitsgrad besitzt, wird durch das Aussaugen viel einfacher – durch den erhöhten Boost an Erfahrungspunkten schaltet man wesentlich schneller passive und aktive Vampirfähigkeiten frei, kann zudem seine wichtigen Statuswerte (Leben, Ausdauer, Blut) früher anheben. Andererseits verliert man durch dieses Töten vielleicht eine Quest und es kann sich negativ auf die Stabilität der vier Stadtviertel (Docks, Whitechapel, West End, Pembroke Hospital) auswirken. Hier präsentiert Dontnod eine innovative Spielmechanik, die nicht nur die Ausbreitung der Seuche, sondern auch die Relevanz bestimmter charismatischer Schlüsselfiguren simuliert.

Aktive Bürgerpflege

Das „Management“ der Stadtviertel erinnert ein wenig an inFamous 2: Je nachdem wie gesund die Bevölkerung ist, ändert sich nach jeder Übernachtung der Zustand in mehreren Stufen von „Gereinigt“ bis „Chaos“ von hundert bis null Prozent – je schlimmer es wird, desto mehr Monster streifen umher und desto teurer werden die Preise, bis irgendwann gar kein Bürger

[GUI_STATICIMAGE(setid=83912,id=92566470)]
Alle gelb markierten Bürger sind krank. Und die Schlüsselfigur ist verstorben. Das wird knifflig im West End! © 4P/Screenshot

mehr zu sehen ist. Leute werden vermisst gemeldet, können Opfer von Mord werden. Da sich einmal vorhandene Krankheiten aber ausbreiten, wird die grassierende Epidemie fast wie in Plague Inc oder dem Brettspiel Pandemic Legacy simuliert: Kaum wacht man auf, hat sich wieder jemand angesteckt! Aber womit? Es gibt von der Erschöpfung über Migräne bis Blutarmut eine Hand voll unterschiedlicher Symptome, die an Intensität zunehmen. Um dem entgegen zu wirken, kann man jedem Bürger z.B. eine Medizin geben, die man allerdings selbst über spezielle Zutaten erstellen muss.

Pro Stadtviertel hat man es mit mehr als einem Dutzend Bürgern zu tun, wobei einer die zentrale tragende Rolle einnimmt – um diesen ist auch meist eine Hauptquest gestrickt, in der sich die eigenen Entscheidungen sehr stark auf das Gleichgewicht im Viertel auswirken. Man hat am Ende dieser Missionen meist die Wahl, ob man diese

[GUI_STATICIMAGE(setid=83912,id=92566468)]
Es gibt übrigens nur einen Schwierigkeitsgrad. Allerdings hat man über seine Spielweise auch Einfluss auf den Anspruch im Kampf. © 4P/Screenshot

Schlüsselfigur einfach gehen, in Hypnose versetzt und alles vergessen lässt, in einen Vampir verwandelt oder aussaugt und damit tötet. Hier spitzen die Autoren die moralischen Fragen meist so zu, dass man sehr lange überlegen muss. Egal was man macht: Es wird am anderen Tag in der Zeitung davon berichtet, der Zustand kann rapide sinken und die Bürger reagieren danach auf diese Entscheidung. Man spürt die Auswirkungen also nicht nur statistisch, sondern auch an einem weiteren zynischen Alkoholiker oder desillusionierten Bürgern – ein schönes System, das einen zum verantwortlichen Handeln animiert! Das gilt abseits der Stadtviertel auch für die Frage der Politik: Man kann nicht über ganze Questlinien, aber in bestimmten Schlüsselszenen unterschiedliche Fraktionen unterstützen und so die Macht in der Stadt sowie das Ende des Spiels beeinflussen.

Trotzdem habe ich hier mehr relevante Zwischenstufen vermisst, denn die mittleren Bereiche unterscheiden sich kaum. Und wenn man es mal schafft, ein Viertel komplett zu reinigen, gibt es zu wenig positive Auswirkungen. Was bringen mir bei diesen überflüssigen Händlern billigere Zutaten? Hier hat man sehr viel an Belohnungsmöglichkeiten verschenkt! Warum gibt es keine neuen Quests? Oder neue Bürger, die von dem gesunden Viertel angelockt werden? Außerdem hat diese im Ansatz innovative Mechanik einige üble spielmechanische Nebenwirkungen. Bisher habe ich das nur angedeutet, aber das Sammeln ist ein wesentlicher Nervfaktor.