Fragen über Fragen
Einige künstlich wirkende Zufälle werden erklärt, die gespenstisch leeren Gassen sind aufgrund der Seuche verständlich: Es herrscht Quarantäne, es gibt Ausgangssperren und Bürgerwehren ziehen umher, um vermeintliche Vampire zu töten. Die Atmosphäre ist englisch gediegen, aber es riecht bereits nach Verfall und Endzeit. Schön ist auch, dass man seinen Vampirsinn auch mal einsetzen muss, um blutige Spuren zu verfolgen, Opfer zu untersuchen sowie Mörder zu finden – was jedoch immer nach Schema F abläuft, ohne dass man mal selbst nachdenken muss. Trotzdem wird man immer neugieriger. Zum einen hört Jonathan ja diese seltsame Stimme und will natürlich wissen, was er als Vampir für ein Wesen ist – wo kommen sie her, was sind Skals und Ekons? Dontnod hat auch einige klassische Facetten des Vampirmythos recherchiert, aber bindet diese nicht aktiv in die Erzählung ein, sondern archiviert sie als „Sammelobjekte“ irgendwo im Menü, wo man sie bei viel zu kleiner Schrift (es gibt drei Größen, aber selbst die Maximalstufe ist zu mickrig mit Abstand auf großen Fernsehern) lesen soll – schade. Warum kann man nicht mal aus der Lektüre ein Rätsel machen? Oder den lesenden Spieler mit einer Quest oder einer Lösung belohnen? Interessant für Jonathan bleibt natürlich, wer ihn eigentlich erschaffen hat. Diesem Unbekannten schwört er Rache, zumal er ihn für den Tod an seiner Schwester verantwortlich macht.
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Leider führt die Regie gerade dieses psychologisch interessante Leitmotiv der fremden Stimme nicht konsequent fort, denn sie verstummt manchmal für viel zu lange Zeit und es gibt lediglich einige surreale Erscheinungen; da hätte man à la The Darkness für deutlich mehr Konflikte und Überraschungen sorgen können! Wertvolle Antworten liefert ihm immerhin sein neuer Chef, denn Dr. Swansea kennt sich mit den Blutsaugern aus. Warum eigentlich? Wird Jonathan nur benutzt? Dieser Gönner ex machina bekämpft in seinem Krankenhaus die mysteriöse Seuche, die London gerade in einen endzeitlichen Zustand versetzt. Eines der Hauptziele ist es, diese Epidemie einzudämmen. Dafür muss Jonathan nicht nur kämpfen, sondern auch sehr viel recherchieren, indem er mit Patienten und Bürgern spricht – die verbergen so einige Geheimnisse. Und hier demonstriert Dontnod endlich seine große Stärke und lässt mehr Rollenspiel beginnen!
Life Is Evil
Auch wenn Mimik und Gestik im Vergleich zu God of War oder Detroit: Become Human sehr steif wirken: Es macht richtig Spaß, sich mit den Leuten zu unterhalten! Man behält diese Charaktere mit ihren Geschichten viel länger in Erinnerung als gewöhnliche NSC. Das liegt daran, dass sie nicht sofort zu durchschauen sind, dass die Gespräche mit ihrer Entwicklung von der anfänglichen Distanz bis zur Vertrautheit natürlich wirken und überraschende Wendungen nehmen können – hier zeigt sich die Expertise der Macher von Life Is Strange. Je nach sozialer Herkunft reagieren sie ganz anders auf diesen neugierigen Doktor Read in seinem schicken
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Anzug, den manche noch von früher kennen. Man sollte also gut zuhören, denn man wird auch mit Gegenfragen auf die moralische Probe gestellt. Und wenn man „falsch“ antwortet, kann man schonmal in einer Sackgasse landen, herrlich pampige Reaktionen hervorrufen oder Hinweise werden glatt gestrichen. Die Aufmerksamkeit wird allerdings auch ein wenig erzwungen, weil man keinen Spielstand vor einem Gespräch laden kann – es wird lediglich automatisch gespeichert.
Jeder Bürger vom Malocher bis zum Snob, vom Kommunisten bis zum Rassisten, von der Mutter bis zum Waisenkind, ist auch ein kleines biographisches Rätsel, das es zu entschlüsseln gilt – im Verborgenen lauern Liebe, Hass, Verrat, Gewalt, Psychosen und Exzesse. Da streiten Ärzte um das Operationsrecht oder vertuschen ihre Pfuschereien, Mütter decken ihre mordenden Söhne und es gibt köstliche Szenen, wenn Möchtegern-Vampirjäger oder eingebildete Vampire mit ihrer Psychose nicht wissen, wen sie da eigentlich vor sich haben. Neben dem Ersten Weltkrieg, der Armut und Dekadenz werden auch Homosexualität, Frauenwahlrecht & Co thematisiert.
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Man kann den Storywritern höchstens „vorwerfen“, dass sie nahezu alle denkbaren menschlichen, sozialen und politischen Konflikte thematisieren, so dass man sie in einem Katalog abhaken kann. Zwar gibt es immer die beiden recht statischen Eingangsfragen nach der Lage in der Stadt sowie dem persönlichen Befinden, so dass auf Dauer eine gewisse Routine entsteht, aber danach öffnen sich die Dialoge und einfaches Durchklicken reicht nicht aus, zumal wichtige Stichpunkte zunächst gar nicht vorhanden sind. Manche ergeben sich aus dem Gesprächsverlauf, wenn man sich in die Charaktere hinein denkt, manchmal muss man aber erst irgendwo Leute belauschen – eine der wenigen subtilen Einsatzmöglichkeiten des Vampirsinns! – , die andere Partei befragen oder ein Tagebuch finden oder Leichen untersuchen, um im anschließenden Dialog wieder neue Argumente zu haben. Sehr schön wird zudem die Vampirfähigkeit der erzwungenen Antwort inszeniert, in der Jonathans Stimme eine übernatürliche Kraft gewinnt. Und damit kommen wir zur dunklen Seite seiner Macht.