Zurück zur Faszination
Drei, zwei, eins – Absprung: Ich halte mich in letzter Sekunde am Flügel eines Riesenvogels fest, sitze aufrecht wie ein Erdhörnchen auf der Couch, umklammere das Gamepad und sage „Wow! Einfach nur, wow!“. Spätestens in diesem Moment werde ich auf der PlayStation 4 Pro zurückgebeamt in eine Zeit, in der ich meine bisher intensivste Spielerfahrung sammeln konnte. Der Koloss rast so schnell über den See, dass sich kleine Flutwellen bilden, dass Wald und Berge verschwimmen. Wie lange kann ich mich so halten? Wie eine Spielzeugpuppe baumle ich hin und her, während die Kreatur ihre Wut in den Wind kreischt. Ich warte ihren Gleitflug ab, ziehe mich ächzend hoch, wanke unsicher über die schuppige Lederhaut und springe auf diesen mächtigen Rücken: jeder Wirbel so groß wie ein Baum, jedes Haar so lang wie ein Mann.
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Moment, habe ich Haar gesagt? Nein, es ist dichtes Fell, das so vom Flugwind zerzaust wird, dass es stürmische Wellen schlägt – diese wohl auffälligste grafische Ergänzung sieht einfach nur fantastisch aus. Schon der Einstieg hat mich mit einer Welt verblüfft, die im Vergleich zum Original wesentlich lebendiger wirkt – es ist bemerkenswert, was das texanische Team von Bluepoint vor allem landschaftlich hinzugefügt hat. Man hat fast das Gefühl, dass jemand ein altes Gemälde so meisterhaft restauriert hat, dass es endlich in Farbe sichtbar wird. Hier geht es ja nicht nur um schärfere Texturen hier oder weniger Kanten da, wie noch in der HD-Version für PlayStation 3.
Hier geht es um zusätzliche Animationen für Held und Pferd, Echsen und Vögel, um eine neue Physik für die bewegten Stoffe und Pfeile, die in Früchten stecken bleiben. Hier geht es aber in erste Linie um blühende Wiesen oder mit Pilzen überwucherte Bäume, wo vorher gar keine waren! Schaut man sich die Vergleichsbilder an, liegen Welten zwischen Original und Remake – was angesichts von zwei Konsolengenerationen natürlich zu erwarten war, aber nicht unbedingt selbstverständlich ist. Und hier geht es ja auch um komplett neue Surroundeffekte sowie vor allem um ein vollkommen neues Licht, das je nach Wetter und Klima ganz andere Facetten zeigen kann. Diese dichten Sandstürme und dräuenden Unwetter gab es vorher nicht. Hinzu kommen nicht nur Fußspuren im Sand oder tolle Übergänge beim Tauchen, sondern erneut klasse Stimmungswechsel, wenn man vom Hellen ins Dunkle reitet, nur dass sie jetzt akustisch und visuell noch markanter wirken. Es gibt nirgends Questmarker oder Zielmarkierungen, lediglich natürliche Landmarken, Berge, Höhlen oder Tempel. Und ich ertappe mich immer wieder dabei, dass mich irgendetwas in der Ferne magisch anzieht. Auch ohne Aufgabe, ohne Schatz, tauche ich in dieser Landschaft ab. Wenn ich einfach so staunend zwischen Dünen und Ruinen umher wandere, fühle ich mich an Journey erinnert.
Meisterhafte Restaurierung
…bevor ich mir weitere Gedanken darüber machen kann, wieso mich ein Remake nach zwölf Jahren so in Wallung bringen und einfach komplett zufrieden stellen kann, obwohl ich das Abenteuer doch so gut kenne, beginnt wieder der gefährliche Flügelschlag. Ich kralle meine Hände mit R2 ins
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rettende Fell und erkenne hinten am Schweif ein blaues Glimmen – da muss ich hin, da ist dieser urtümliche Koloss verwundbar! Man hat jetzt übrigens die Wahl zwischen zwei Steuerungsarten, der klassischen sowie der modernen, wobei Letztere etwas mehr Komfort bringt. Aber auf das Spielgefühl wirkt sich das kaum aus.
Jetzt kommt es jedenfalls auf gutes Timing an: Während der Gleitphase weiterlaufen, während der Sturz- und Kurvenflüge festhalten. Aber das ist leichter gesagt als getan, denn ich hänge mit einer Hand an einem Büschel, während die Kraft schwindet, dargestellt durch den gelben Ausdauerkreis. Trotzdem ist der Schwierigkeitsgrad auf „normal“ eher verzeihlich und alles andere als knallhart, zumal man bei einem Absturz nicht sofort stirbt und die automatischen Speicherpunkte sehr fair sind; man kann übrigens auch manuell sichern.
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Warum riskiere ich hier mein Leben? Aus Verzweiflung. Aus Trauer. Vielleicht auch aus Liebe. Ich stecke dreihundert Fuß über der Erde in der Haut eines jungen Helden, der eine Tote in ein verbotenes Reich geleitet hat. Kein Sterblicher darf diese heiligen Grenzen überschreiten. Aber wieso wurde sie geopfert? Ich wollte dieses Schicksal nicht akzeptieren. Ich wollte die Götter um Hilfe bitten. Und sie haben mich erhört: Nur, wenn ich sechzehn Kolosse töte, wird sie wiederbelebt. Deshalb lag die bleiche Schönheit auf dem Rücken meines schwarzen Pferdes Agro, deshalb lenkte ich die Stute mit stoischem Blick durch ein uraltes Tal. Neu ist übrigens, dass man die Kamera auch während der Filmszenen bewegen kann. Ich befinde mich nach zwölf Jahren wieder auf dieser Quest ohne Rückfahrtschein. Und weil ich weiß, dass das Finale aufgrund seiner hervorragenden Dramaturgie zu den besten der Videospielgeschichte gehört, lasse ich mich sehr gerne fallen...