Zurück bei Swann
Zwei Monate nach der ersten Episode ist Lost Records seit dem 15. April
vollständig. Tape 2, passend „Rage“ genannt, erzählt die Geschichte von
Swann und ihren Freundinnen zu Ende. Zumindest ist das der Plan von
Don’t Nod, aber das Endresultat ist… nun, sagen wir kompliziert.
Bevor ich jedoch auf die erzählerische Fortsetzung des Abenteuers
eingehe, sei eines erwähnt: Spielerisch bleibt, wenig überraschend, fast
alles beim gleichen. Noch immer nehme ich Sachen mit der Kamera auf
oder löse kleine Rätsel. Wobei es immerhin eine kleine Schleich-Sequenz
und eine Situation, in der ich unter Beweis stellen muss, wie gut ich
einen Charakter kenne, das Gameplay etwas auflockern. Gegen Ende gibt
es sogar noch eigentlich ziemlich coole und spannende Idee – die allerdings nach fünf Sekunden schon wieder vorbei ist. Schade um das vergeudete Potenzial.

Schwierige Aufarbeitung
Bleibt also die Handlung über: Rage setzt da an, wo die erste Episode
ihren dramatischen Höhepunkt genommen hat. Nach jenen Ereignissen hat
die Gruppe erst einmal zu kämpfen: emotional mit sich selbst, aber auch
untereinander. Zu Beginn weicht das Summer of 90’s-Feeling damit einer
deutlich trüberen Stimmung. Statt, wie zuvor, ständig zu viert
aufeinander zu hocken, sind es jetzt vor allem die Szenen, in den Swann
alleine oder maximal mit einem anderen Mädchen zusammen ist, welche die
Handlung in der ersten Hälfte der deutlich kürzeren zweiten Episode
dominieren.
In diesen Momenten weiß Lost Records noch immer zu überzeugen.
Wenn ich mit der kürzlich aus L.A. zurückgekehrten Nora über das
Vergangene reden, ihr neues Piercing bewundere und mich über ihr
mitgebrachtes Geschenk freue, dann zeichnen die Autor*innen stets ein
intimes, freundschaftliches Bild. An anderer Stelle kommt es aber auch
zu Konflikten, etwa wenn Autumn das, was passiert ist, nicht so einfach
abhaken kann – und sehr mit ihren Gefühlen zu kämpfen hat, diese aber
nicht gegenüber der Gruppe so direkt äußern möchte.

Noch stärker als in Episode 1 dreht derweil der Soundtrack auf: Die
fantastischen Songs, lizenzierte und selbst komponierte, sind ein wahrer
Genuss fürs Ohr und passen nahezu immer perfekt. Von
Aufbruchstimmung bis Melancholie, von düsteren Tönen bis nostalgische
Erinnerung: Definitiv ein Anwärter auf eine Auszeichnung gegen Ende
des Jahres.
Die Auswirkungen
Das was ich in der ersten Episode angemerkt, aber noch nicht final
beurteilen konnte, waren die Auswirkungen meiner Entscheidungen.
Wirkliche Konsequenzen hat es noch nicht gegeben – mit Rage ändert
sich das. Auch wenn ihr wohl wie ich dies erst gegen Ende realisiert.
In einer Übersicht zeigt mir Don’t Nod meine Entscheidungen und das
entsprechende Resultat an. Bei einigen hat es mich ziemlich überrascht, wie eine Szene hätte auch laufen können und vor allem, was ich im Grunde
dadurch verpasst habe, weil ich schlichtweg einen anderen Dialog
gewählt habe. Vor allem das Ende zeigt das besonders stark: Es handelt
sich nicht zwingend um eine lapidare Entscheidung zwischen A oder B,
sondern die Möglichkeiten, die sich mir bieten, hängen davon ab, wie ich
mich zuvor über das gesamte Spiel hinweg gegenüber Charakteren
verhalten habe.

Das hat anschließend auch einen Einfluss auf die moderne Geschichte,
die ja den Rahmen für Lost Records bietet. Hier kann es passieren, dass
ich auf einmal mit Swann ganz alleine am Tisch in der Bar sitze – oder in
meinem Fall nur noch mit Nora. Ein Stich mitten ins Herz. Im Anschluss
habe ich noch einige Zeit darüber nachgedacht, was ich wohl falsch
gemacht habe. Die traute Zweisamkeit mit der Rockerin hatte aber
trotz allem etwas Schönes und Beruhigendes.
Enttäuschendes Mysterium
Die eigentliche Handlung und das Mysterium rund um das, was in den
90er Jahren passiert ist, fällt hingegen ziemlich flach aus. Für den
übernatürlichen Part liefert Don’t Nod so gut wie keine Antworten.
Warum mitten im Wald ein riesiges Loch ist, was es mit diesen
merkwürdigen Raben auf sich hat und wieso in dem Versteck
der Mädchen überall okkulte Symbole sind, bleibt völlig offen. Es wird
nicht einmal von irgendeinem Charakter hinterfragt.
Natürlich muss es nicht für alles eine Erklärung geben. So wissen wir
beispielsweise bis heute nicht ganz genau, warum in der Life is Strange-
Reihe manche Menschen Superkräfte erhalten. Aber es gibt Ansätze und
Interpretationsmöglichkeiten auf Basis dessen, was erzählt wird. Lost
Records lässt aber all das vermissen. Es will gar nicht erklären. Zumindest noch nicht. Das Ende deutet nämlich eine direkte Fortsetzung an, die vielleicht stärker den Mystery-Ansatz beleuchtet.

Noch unspektakulärer ist derweil das Paket, welches die
Freundinnen überhaupt erst 27 Jahre später wieder zusammenbringt. Als ich endlich einen Blick hineinwerfen kann, ist der Inhalt ziemlich enttäuschend, wenn auch zugegeben etwas emotional. Trotzdem: Erklärungen gibt es keine. Swann ist zwar erst etwas stutzig, lässt aber das Geschehen sonst weiter unkommentiert – das wirkt in dem Moment schon arg
unglaubwürdig.
Apropos: Verwirrt hat mich auch die Auflösung, die ich in der ersten
Episode noch als spannend beschrieben habe. Seit der ersten
Minute hat Don’t Nod um Swanns Aussehen in der Moderne ein
Geheimnis gemacht und völlig bewusst eine First-, statt Third-Person-
Perspektive verwendet. Vielleicht, weil es mit dem Mysterium
zusammenhängt? Leider nein. Ehrlich gesagt wirkt die Entscheidung
mehr wie eine falsche Fährte, wodurch die Enthüllung sehr enttäuscht.