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Atomic Heart (Shooter) – BioShock aus Russland?

Am heutigen Dienstag erscheint der Ego-Shooter Atomic Heart, nach über fünfjähriger Entwicklungszeit und mehreren Verschiebungen. Trotz reichlich Trailer-Material in den letzten Monaten ist das ambitionierte Actionspiel für viele Interessierte immer noch eine Black Box – in unserem Test räumen wir mit den Vermutungen auf und analysieren, was das Spiel richtig gut macht und wo es sich Patzer leistet. Außerdem spüren wir der Frage nach, die aktuell viele Menschen beschäftigt: Kann man sich dieses Spiel made in Russia guten Gewissens kaufen? Wir erklären euch, warum 4Players deshalb auf eine Spielspaß-Wertung verzichtet.

© Mundfish / Focus Entertainment

Generell war ich überrascht, an wie vielen Stellen die Entwickler meine grauen Zellen fordern: Zwar zeigt ein Marker stets an, wo das nächste Missionsziel ist – das stört Erkundungspuristen – doch wie ihr dorthin gelangt, müsst ihr selbst herausfinden. Häufig nutzt das Spiel mit lausigen Tutorials eingeführte Schlüsselmechanismen an verschlossenen Türen, fast ebenso oft gibt es aber clevere Umgebungsrätsel, die einen immer wieder überraschen und neu fordern. Mal muss man dezent von Portal inspirierte Riesenräume voller Magnete durchqueren und dabei Sprungpassagen meistern, andernorts lässt man Ballett-Roboter Tanzfiguren aufführen, damit ihre Schatten an der Wand grausige Todesszenen nachstellen. Dazu gesellen sich hübsch ausstaffierte, drehbare Rätselzimmer, die an Versuchsaufbauten auf einem Atomtestgelände erinnern, oder kleine Detektiv-Aufgaben, wo man mit getöteten Zivilisten „plaudert“ und so Codes zusammenknobelt. Diese Mechaniken finden sich sowohl in den großen „Story-Dungeons“ – Atomic Heart entführt euch immer wieder für längere Zeit in Gebäudekomplexe unter der Erde – als auch in den optionalen Test-Räumen, die überall in der halboffenen Welt zu finden sind; oft stellt auch schon das Finden und Öffnen des Eingangs die erste Hürde dar.

Gegner, Bosse, Bösewichte


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Sehr praktisch: Per Telekinese-Handschuh sammelt ihr zahllose Crafting-Materialien komfortabel ein. © 4P/Screenshot

Obgleich manch ulkiger Dialog – die deutsche Sprachausgabe geht in Ordnung – mit übermäßig bürokratischen Sowjet-Robotern für Schmunzler sorgt, sind die vielen Palaver der Hauptfigur mit ihrem sprechenden Handschuh oder story-relevanten NPCs immer wieder nervig: Weil sie nicht auf den Punkt kommen, keine Rücksicht auf die Action nehmen und weil der Spielercharakter sich zunehmend als unflätiger Choleriker herausstellt, der partout nicht verstehen will, dass es wenig bringt, Roboter mit Schimpfwörtern zu überhäufen. Am Anfang des Spiels solltet ihr übrigens dringend in die Audio-Abmischung eingreifen und eine für euch gut verständliche Option suchen – denn schon in den ersten Spielminuten sind die (teils schmissige) Musik sowie manche Soundeffekte viel zu laut im Vergleich zu den Stimmen.

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Igelchen wird wild: Dieser Bossfight verlangt nach flotten Reflexen und einer Prise Taktik. © 4P/Screenshot

Das normale Feindvolk macht sich anfangs rar, doch in den späteren Story-Missionen sowie in den besser bewachten Teilen der Oberwelt wimmelt es nur so vor Gegnern. Man zerteilt Mensch-Pflanzen-Mutanten, die an Cordiceps-Feinde erinnern, auf blutige Art, zerstört viele Sicherheitskameras, die den Alarm-Level steigern, und sieht irgendwann ein, dass es wenig Sinn hat, die vielen Reparatur-Drohnen und Flug-Robos alle abzuballern. Wenn das Umgehen von Kameras mal wieder nicht klappt, die Warnlampe auf rot springt, aus Automaten schier unendlicher Drohnen-Nachschub schwirrt und dann auch noch Kisten voller Feinde abgeworfen werden, dann ist es ratsam, die Beine in die Hand zu nehmen. Das klappt zum Glück gut und nach dem Speichern im nächsten Pilzhäuschen haben die meisten Schufte euch auch wieder vergessen.

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Ein Hauch von Zombie-Apokalypse: Atomic Heart ist nie gruselig, ab dem Schwierigkeitsgrad „mittel“ aber schon mal anstrengend. © 4P/Screenshot

Wenig überraschend gibt es dramatische Auftritte großer Robo-Monster, die euch mit Raketensalven eindecken oder wild stampend durch eine Kampfarena springen. Die sind mal einfallslos und linear (Ausweichen, Shotgun, Ausweichen, Heilen, Shotgun…) und anderer Stelle dramatisch und kreativ: Den wieselflinken, scheinbar nur als blutigen Ranken bestehenden „Plyush“ müsst ihr vor allem mit Nahkampf-Waffen traktieren, das dicke „Igelchen“ lasst ihr am besten gegen aus dem Boden fahrende Gebäudeteile krachen und fügt ihm Schaden zu, wenn er mit offenen Schaltkreisen neben euch auf dem Boden liegt. Die Story serviert euch derweil ein paar offensichtliche Wandlungen vom Saubermann zum Oberfiesling, nur um dann plötzlich mit einer total abgefahrenen Kojima-Light-Zwischen- oder Traumsequenz zu überraschen, die man den Entwicklern so nicht zugetraut hätte.

Top Technik ohne Q&A-Abteilung?


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Schickes Design, top Grafik: An vielen Stellen sieht Atomic Heart richtig richtig gut aus. © 4P/Screenshot

Angesichts der nicht vorhandenen AAA-Erfahrung des Studios hätte ich nicht erwartet, dass sie nach dieser langen und – wenn man diversen Quellen Glauben schenkt – problembehafteten Entwicklung ein grafisch so sauberes Produkt abliefern. Ich habe Atomic Heart auf der PS5 getestet – dort läuft das Spiel meist mit sauberen 60 Bildern in 4K, und dabei sehen vielen Areale wirklich stark aus. Zum einprägsamen Design gesellen sich starke Texturen, sehenswerte Transparenzen und teils spektakuläre aussehende Materialien und Oberflächen. An anderer Stelle muss ich jedoch tadeln: Zugänglichkeits-Optionen wie sie mittlerweile von Activision, Microsoft oder Sony in Hülle und Fülle angeboten werden, fehlen hier fast vollkommen – zudem ist es nicht möglich, Tutorials nachzuschlagen oder einfach nur die Controller-Belegung einzublenden. Dazu werden Mini-Games oder Fähigkeiten schlecht erklärt und im Upgrade-Menü plus Inventar nutzt man einen virtuellen Mauszeiger, der mit dem Stick bewegt wird. Hier hätte ich mehr Feinpolitur erwartet, spätestens vom Publisher Focus, der mit A Plague Tale: Requiem bewiesen hat, dass er es besser kann.

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Atomic Heart überrascht immer wieder – was es mit dieser Szene wohl auf sich hat? © 4P/Screenshot

Zwar haben bei meinem Durchspielen alle relevanten Quest-Ereignisse erfolgreich ausgelöst, manchmal war ich mir jedoch nicht sicher, ob das Spiel gerade kaputt ist (schließlich ist es ja mehrfach abgestürzt) oder ich nur eine Kleinigkeit übersehen hatte. Wer es nicht schafft, die auf Knopfdruck einblendbare Hilfs-Sicht oder die Karte intuitiv zu gestalten, so manche viel zu lange Aufzugfahrt einbaut (Steckt der fest??) oder mich in einem Raum nicht vorankommen lässt, weil ein Mini-Pflänzchen in einer dunklen Ecke nicht besiegt ist, dem ist auch zuzutrauen, dass an Stelle X tatsächlich ein Schalter einfach nicht geht. Nach Minuten des Umherwanderns fand ich dann das geschickt am Boden verborgen Tür-Öffne-Relais, doch schon bei der Suche nach dem toten Techniker im Robo-Theater hatte ich wieder die Sorge: Spinnt der Quest-Marker gerade rum oder stelle ich mich beim Sherlock-Spiel nur doof an?