Die schlurfenden Toten werden jetzt Muertos genannt, manchmal jedenfalls, ansonsten hat sich in The Walking Dead nicht viel verändert: Noch immer kämpfen Menschen gegen Wanderleichen, vor allem aber mit ihren eigenen Dämonen. Und trotzdem ist die dritte Staffel mit dem Untertitel Neuland (Englisch: A New Frontier) nicht ganz so wie die vorherigen Geschichten. Wie Telltale das schafft? Im Test nehmen wir Javier und seine zerbrechliche Familie unter die Lupe.
Nun spielt das alles freilich keine große Rolle, wenn die Geschichte so bedeutungsvoll und emotionsgeladen wäre wie die der ersten zwei Staffeln – und das ist sie auch! Sie dreht sich diesmal um Javier Garcia, der mit seiner Schwägerin Kate, seiner Nichte Mariana und seinem Neffen Gabe in der Apokalypse zu überleben versucht. Aber nicht nur das: Anstatt wie in den vorherigen Jahren davon zu erzählen, wie die vier mit diesen, dann mit jenen und später ganz
anderen Mitmenschen oder Gruppen klarkommen, richtet Telltale den Blick diesmal auf eine große beständige Personengruppe.
Natürlich sind Javier und Co. in den ersten zwei Episoden noch in einem Transporter auf der Flucht vor einer riesigen durchs Land ziehenden Herde Untoter und machen auf dem Weg auch kurzfristige Bekanntschaften. Schließlich kosten die Zombies nach wie vor zahlreiche Menschenleben. Aber schon am Ende der zweiten Staffel schließen sich die ersten Kreise, wenn sie sie nach Richmond gelangen, wo die im englischen Original titelgebende „New Frontier“ ihre Zelte aufgeschlagen hat: eine Gruppe, deren Mitglieder Javiers Nichte kaltblütig erschossen und Kate verwundet haben. Und die von Javiers Bruder, also Marianas Vater und Kates Ehemann, angeführt wird.
Kloß im Hals
Zum einen hat Telltale mit Marianas Tod den womöglich überraschendsten, für mich auf jeden Fall erschütterndsten Tod der gesamten Serie inszeniert! Die Einführung der Figur sowie ihrer Beziehung zu Javier und Kate gelingt den Spieleregisseuren ganz ausgezeichnet – umso erschreckender war der ebenso abrupte wie komplett sinnlose Tod des Mädchens.
Zum anderen war ich über die gesamte Staffel hinweg davon begeistert, dass die Entwickler diesmal nicht verschiedene Konflikte unterschiedlicher Charaktere im Wesentlichen nur aneinanderreihen, sondern länger und intensiver in das komplizierte Geflecht abweichender Ideale und Bedürfnisse innerhalb einer großen Konstellation Überlebender blicken. Das ist der Serie zwar nicht grundsätzlich neu, wird diesmal aber u.a. dadurch betont, dass nur wenige Ortswechsel stattfinden und sich unterm Strich alles um Richmond und seine Anwohner dreht.
So hatte ich viel mehr das Gefühl in die Charaktere hineinzuwachsen. Die emotionale Bindung ist stärker, wenn die Gedanken an einem Ort verweilen, der jede Stunde mit weiteren Geschichten gefüllt wird. Ich war vor allem in Staffel zwei kein Freund der manchmal stichpunktartig erzählten Begebenheiten am Rande des Weges und deshalb sehr glücklich über die aktuelle Ausrichtung.
Ist Blut dicker als sauberes Wasser?
Eine zentrale Rolle nimmt dabei die schwierige Beziehung zwischen Javier und seinem heißblütigem Bruder David ein, der seine Männer und Frauen selbstverständlich nicht angewiesen hatte auf seine eigene Tochter zu schießen. Die handelten aus ganz anderen Beweggründen hinter seinem Rücken und im Namen eines weiteren Führungsmitglieds in Richmond, der kalt berechnenden Joan. Im Gegensatz zu ihr hat David durchaus das im Sinn, was als klassisch „gut“ gelten kann – der
Heißsporn hat sich in vielen Situationen allerdings überhaupt nicht unter Kontrolle. In einem Streit mit Javier schlägt er sogar seinen eigenen Sohn. Seine Frau Kate hatte sich ohnehin längst aus ähnlichen Gründen von ihm abgewandt und als eine öffentliche Konfrontation mit Joan eskaliert, erschießt David einen Verbündeten, weil er in seiner Raserei nicht klar denken kann.
Wie geht man mit einem Bruder um, der seinen eigenen Leuten schadet? Das ist eine der zentralen Fragen und die Entwickler inszenieren diesen Konflikt hervorragend, weil sie auch das starke Band zwischen Javier und David sehr greifbar und viele Entscheidungen damit zu schwierigen Gewissensfragen machen. Es erinnert ein wenig an die Beziehung zwischen Clementine und Kenny in Staffel zwei, wobei Davids Charakter stärker durch seine Taten, „gute“ wie „schlechte“, geprägt ist und seine zwei Seiten damit noch stärker und greifbarer ausgearbeitet sind. Den Konflikt provoziert Telltale zudem nicht nur über Auseinandersetzungen der zwei Brüder, sondern da ist immerhin auch Kate, die längst Gefühle für Javier entwickelt hat, und mehrmals ein ganz anderes Verhalten von Javier fordert als ihr Mann…