Oder doch? Wie wichtig sind die kleinen Entscheidungen des Alltags? Wie viel bedeuten sie ihr selbst? Denn darum geht es in Sunset: um den Augenblick. Um das Hier und Jetzt, das in einem glaubwürdigen Gesellschaftsportrait vielschichtiger ist als die Entscheidung „Scharfschützengewehr oder Schrotflinte?“. Selten hat ein Videospiel dabei so eindringlich einen alltäglichen Widerspruch beschrieben wie diesen: Sie als gebildete Vertreterin einer aufstrebenden Moderne, er als Hüter der Tradition. Es ist nur eins der Themen, die diesem virtuellen Raum Tiefe verleihen.

Virtual Reality

Als Angela im Mai 1972 an ihrem neuen Arbeitsplatz ankommt, ist das Appartement leer. Es liegt kein Teppich, keine Möbel stehen, weder Lampen noch Gemälde hängen an ihrem Platz. Erst wenn sie die ersten Kisten

auspackt, füllt sie die Suite mit Leben. Mit Notwendigkeiten, mit Kunst, mit Musik. Man macht sich die Spielwelt

Die Musik der 70er



Jazz, Oper und Volksweisen: Die Musik des Spiels beschreibt den Zeitgeist einer ganzen Epoche – komponiert wurden sämtliche Stücke von Austin Wintory (Journey, The Banner Saga), der mit Sunset einen der besten Soundtracks des bisherigen Jahres geschrieben hat.

Das komplette Album gibt es auf Steam und zum kompletten Probehören auf Bandcamp. © 4P/Screenshot
zu eigen. Man lauscht zeitgenössischem Jazz und den Arien einer Oper, während man nach getaner Arbeit die Kunstwerke an Ortegas Wänden ausgiebig wirken lässt.

Man stellt den Kalender auf das aktuelle Datum, jeden Tag aufs Neue. Man wächst hinein in alltägliche Dinge , die den Schauplatz zu einem vertrauten Ort werden lassen. Manche Abläufe sind zwar zu strikt vom  Kontext abhängig, trotzdem spürt man diese Welt mit allen Sinnen und entwickelt ein Gefühl für die Themen, von denen sie durchdrungen ist. Anders als in Dear Esther und Gone Home wird man zu einem Teil des fiktiven Zeitgeschehens, anstatt wie ein Forscher im Nachhinein zu ergründen. Spätestens wenn Gabriel Ortega einige Wochen lang nicht nach Hause kommt, Angela jeden Tag die Post auf dem Tisch ablegt und alle Freiheiten in seinem Heim genießt, kommt man mit ihr an einem echtem Zuhause in einer echten Welt an.
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Im Mittelpunkt steht nicht der gesellschaftliche Umsturz, sondern eine ganz normale Person. © 4P/Screenshot

Wenn Wirklichkeit ins Stottern kommt

Diese Tiefe hätte Tale of Tales allerdings auch technisch erreichen müssen, denn Sunset leidet unter ärgerlichen Schwächen, die das emotionale Erleben schmälern. Die volle Detailstufe der stilvollen, technisch aber sehr einfachen Grafik benötigt etwa einen unverschämt starken Rechner. Während die Steuerung mit dem Gamepad zudem einwandfrei funktioniert, ist das Konfigurieren eines Controllers umständlich und stellenweise unverständlich.

Beschreibungen zu manchen Objekten verschwinden außerdem, sobald man versehentlich ein daneben liegendes anvisiert und Entscheidungen darüber, wie Angela ihre Arbeit ausführt oder auf eine Notiz ihres Arbeitgebers antwortet, werden über das Bewegen des Blickwinkels getroffen – was nicht aus jeder Position einwandfrei funktioniert. Vielleicht hätte Tale of Tales bewährte Werkzeuge nutzen sollen, die eine ähnliche Umgebung wie das Apartment Ortegas zu einer Kulisse ohne ärgerlichen Schluckauf hätten werden lassen.