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Prey (Shooter) – Moral ex Machina

Im Jahr 2032 hat die Menschheit zwar noch nicht den Mars besiedelt, aber
wohnt zumindest in der Nähe des Mondes. Dort schwebt die Raumstation
Talos 1, die einem Privatkonzern namens TranStar gehört. Was wird da
oben gemacht? Geforscht! Und zwar an nichts weniger als dem perfekt
modifizierten Übermenschen. Dass derartige Visionen auch in Wahnsinn
übergehen und noch Schlimmeres anlocken können als humane Hybris, demonstriert das
Science-Fiction-Abenteuer Prey.

© Arkane Studios / Bethesda Softworks

Der lange Atem

Die Arkane Studios liefern hier ebensowenig einen Schnellschuss ab wie mit Dishonored. Mit Letzterem führten sie die Tradion von Thief mit einem eigenen Ansatz fort – und genau das gelingt ihnen jetzt mit diesem Bruder von System und BioShock. Prey mag unglücklich beginnen sowie technische Macken haben, aber es ist ein durchdachter Spätzünder im besten Sinne. Er belohnt langes und wohl überlegtes Spielen statt den gehetzten Triggerfinger. Trotz heißer Gefechte ist es ja kein Shooter im klassischen Sinne, in dem die Hand-Auge-Koordination oder permanente Konfrontation im Vordergrund steht. Wer alle Gebiete „bereinigen“ will, wird daher viel Lehrgeld zahlen, denn das Umgehen mancher Aliens ist klüger. Auch der Einsatz nicht tödlicher Waffen kann sich sowohl situativ als taktisches Manöver als auch auf lange Storysicht auszahlen – denn alles hat Konsequenzen.

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Nichts ist wie es scheint – manchmal verschafft einem eine Rohrzange den Durchblick. © 4P/Screenshot

Es entwickelt sich nach einer mehrstündigen Anlaufzeit ein actionreicher Thriller mit vielen subtilen Interaktionen, die sich nur nicht sofort offenbaren oder erst in einem blöden Tutorialfenster erklärt werden, damit man sie nachmacht. Man lernt innerhalb der Spielwelt, dass das Draufhalten mit der mächtigsten Wumme sinnlos sein kann, aber ein geschickt geworfener Schrank viele dahin schwirrende Probleme wie magisch anzieht und dann auflöst. Es geht um das Beobachten und Experimentieren – dafür steht auch symbolisch die Spielzeugarmbrust, die flauschige Bolzen verschießt. Zu Beginn fragt man sich nicht nur hier, was man mit dem Unfug soll?

Scheinbar sinnloses Zeug


Oder mit Snacks, die die Psyche stärken? Mit Schnaps, der die Furcht heilt? Welche denn? Oder warum es nach fünf Stunden so wenig Modifikationen für den Anzug gibt – da kann man vielleicht mal zwei, drei Teile einsetzen, die wie der PirscherS-6400 das Schleichen verbessern. Aber das soll alles sein? Und wann gibt es Modifikationen für den Helm, dieses so genannte Psychoskop? Warum steht im Menü unter Forschung so lange rein gar nichts? Man es ist als moderner Spieler gar nicht mehr gwohnt, dass sich das Spieldesign für seine Joker mehr Zeit nimmt und sich nicht sofort so entblößt, dass alles einsehbar und klar ist. Wie gesagt: Die Fragen werden beantwortet. Die Kreise schließen sich. Und wenn man mal aus der Ferne einen Schalter aktivieren will, ohne dass es knallt, kann auch so ein Flauschbolzen helfen. Schießt man den in ein Alien-Nest können sogar explosive Wunder geschehen.

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Im Angesicht des Alien: Schrot kann helfen. Aber Prey ist kein klassischer Shooter. © 4P/Screenshot

So gewöhnlich die Regie beginnen mag, so ungewöhnlich stark zieht sie in zwei Phasen, einmal nach etwa sechs bis acht und einmal nach zwanzig (!) Stunden auf mehreren Ebenen an – erzählerisch, spielmechanisch und letztlich auch ästhetisch. Man wird auf lange Strecke bei einer Spielzeit von 35 Stunden so angenehm überrascht wie in kaum einem anderen Spiel der letzten Jahre. Man kann darüber streiten, ob es die Arkane Studios mit dieser Strecke übertrieben haben – man fühlt sich wie bei einem Marathonlauf, der kurz vor der Zielgeraden nochmal auf 5000 Meter mit bösen Hindernissen und wildem Reinrufen erweitert wird. Das Herz rast, die Kräfte schwinden, aber man muss ganz einfach weitermachen, weil einen die Auflösung der Story magisch anzieht.

Ich habe jedenfalls selten so ein starkes letztes Drittel erlebt, das in einem in einer Tour de Force auf dem zweiten von vier Schwierigkeitsgraden alles abverlangt, so dass man sich unter Munitionsmangel wie ein Gejagter vorwärts kämpfen muss, obwohl man schon so viele Fähigeiten besitzt. Doch die Talos 1 verändert sich ebenfalls in Schlüsselmomenten und die Regie verstärkt auch nochmal die Schockelemente. Zwar inszeniert man nicht den expliziten Horror eines Dead Space, aber es gibt wunderbare Schrecksituationen über Poltergeister sowie ein Katz- und Mausspiel à la Alien: Man hat dann zwei, drei Minuten Zeit, sich vor einem besonders üblen Wesen namens Alptraum zu verstecken, das einen aktiv verfolgt – oder es zu töten. Allerdings erreicht man hier lange nicht die Qualität von Alien: Isolation und die KI zeigt leider grobe Aussetzer, wenn sie zwischen einer Tür hängen bleibt oder einfach nicht gut sucht.

Die große Schwäche des ersten Dishonored und vieler anderer Abenteuer, dass man als Held zu schnell zu mächtig und damit abgebrüht wird, teilt dieses angenehm anspruchsvolle Prey wie gesagt  nicht. Zumal es auch stilistisch noch an Charakter gewinnt: Spätestens während der interstellaren Erkundungen der Außenareale oder der inneren Schächte der Talos 1, G.U.T.S. genannt, in denen man im Raumanzug an Leichen und goldenen Spinnweben vorbei schwebt, in deren Nestern es wabert, fühlt man sich auch an beklemmende Science-Fiction im Stile von „Das Schiff“ von Greg Bear erinnert. Und: Man kann sich verirren, weil die Karte gerade im All sowie diesen Tunneln nur noch Zielpunkte und diffuse Areale zeigt. Gerade dieses Gefühl des Verlorenseins wird hier sehr gut eingefangen.