Nichts drängt mich. Ohne Eile schweben rotbraune Blätter unter der warmen Mittagssonne über dem Boden, während Max unter einem Baum Halt macht. Zu leiser Gitarrenmusik lässt sie ihren Tag Revue passieren. Die Kamera zeigt einen Sportplatz, eine Schule, Teenager, die die Pause genießen. Life Is Strange ist ein Adventure in der Tradition von The Walking Dead. Und doch ganz anders.
Ich freue mich außerdem, in einem Adventure mit Telltale-Formel wieder richtige Rätsel zu lösen. Wie bringe ich Victoria, die Zicke der Schule, etwa dazu, den Weg frei zu geben? Wie komme ich an einem umgestürzten Baum vorbei, der mir den Weg versperrt?
Die Antwort ist meist an das Zurückspulen der Zeit gebunden. Oft beobachtet Max nämlich das Geschehen, bevor sie weiß, was geschehen wird – über das Gesehene oder Gehörte ergibt sich beim erneuten Erleben eine Lösung. In Dialogen kennt sie dann z.B. die richtige Antwort. Eine Pappe schiebt sie beim zweiten Mal unter den Schrank, bevor der Schlüssel darunter fällt. Und unter dem umstürzenden Baum schlüpft sie hindurch, weil sie sich vor dem Zurückdrehen der Zeit direkt davor stellt.
Rätsel der Zukunft
Entscheidungen, die den Fortlauf der Geschichte beeinflussen, ähneln denen der Telltale-Geschichten. Anders als z.B. Clementine kann Max ihre Wahl allerdings in Ruhe treffen. Und natürlich kehrt sie zum Punkt der Entscheidung zurück, falls sie im Nachhinein einen anderen Weg gehen will. Innerhalb einer Szene darf sie das beliebig oft wiederholen.
Der Clou daran: Die Konsequenzen sind im Verlauf einer Szene, ja die komplette Episode über, kaum absehbar. Ich spiele also nicht jede Möglichkeit durch, um irgendwann das bequemste oder moralisch einwandfreie
Ergebnis zu wählen. Vielmehr muss ich eine Entscheidung fällen, die ich am besten mit meinem Gewissen oder meiner Gefühlswelt vereinbaren kann.
Stichpunkt und Wirklichkeit
Im Grunde fällt die Entscheidung also vor der Wahl, nicht nach dem Abklappern aller Varianten. Das Zurückspulen ist daher keine Spielkrücke. Es könnte lediglich verhindern, dass man sich überrumpelt vorkommt, weil das erwartete Ergebnis eines Stichpunkts nicht der tatsächlichen Antwort von Max entspricht. Ich kenne solchen Frust aus The Walking Dead.
Nicht zuletzt nutze ich in Dialogen gewonnene Informationen in weiteren oder wiederholten Unterhaltungen. Statt der arroganten Victoria gibt so Max z.B. ihrem Dozenten die richtige Antwort. Viele Lösungen erschließen sich auch über das genaue Beobachten der Umgebung und einige Rätsel sind echte Kopfnüsse, obwohl ich sie gar nicht lösen muss – ein Detail, das die Welt lebendig macht. Nicht jede Erkenntnis sollte Max dabei unverblümt ansprechen. Auch das ist ein cleveres dramaturgisches Mittel!
Kleiner Schluckauf
Im Gegenzug sind viele der Aufgaben, die Max zum Vorankommen lösen muss, leider zu einfach. Vielleicht platziert Dontnod echte Kopfnüsse nur „abseits“ des roten Fadens, um Gelegenheitsspieler nicht zu
verschrecken. Eine Idee anspruchsvoller könnten die Rätsel allerdings sein. Gelegentliche Grafikfehler erinnern zudem an kleine Ärgernisse der Telltale-Geschichten.
Bulle und Sternchen
Die größte Schwäche sind jedoch die vielen stereotypen Charaktere, allen voran die übertrieben zickige Victoria und die betont rebellische Chloe. Zu abrupt wechselt Chloe vom schmerzhaften Verlust ihrer Freundin Rachel zur sorglosen Leck-mich-am-Arsch-Attitüde. Eine Idee zu grob reagiert ihr paranoider Stiefvater, zu einfältig brummt der bullige Football-Star.
Übertrieben hat Dontnod zudem das Kennerlernen der vielen Figuren, mit denen ich mich im Mittelteil der Episode unterhalte. Ich bin ohnehin kein Freund des Adventure-typischen „Hey, wer bist du? Erzähl mir, was du hier tust!“ und Life Is Strange strapaziert genau das beinahe über. Hoffentlich ist dies eine Notwendigkeit des Einstiegs, für die es in den kommenden Episoden keinen Bedarf mehr gibt.