
Auf reaktiver Ebene beginnen die Probleme von Dishonored: Die KI ist nahezu blind für die so ansehnliche Vertikale. Man kann nicht immer, aber meist ohne entdeckt zu werden über Dächer und Simse operieren – bis auf ein, zwei Missionen mit teleportierenden Attentätern hat man dort kaum etwas zu befürchten, bewegt sich nahezu frei. Selbst die hervorragend designten Stelzenläufer, die ja haushoch mit ihren Brandbögen dahin staksen, leuchten die oberen Etagen nicht aus. Wenn man jetzt die zweite magische Fähigkeit hinzu nimmt, die Corvo sowohl in Ratten als auch Fische oder später in Menschen fahren, diese also direkt steuern lässt, beginnt die Balance zwischen angenehm offener Spielweise und zu viel Leichtigkeit schon zu schwanken. Dass es trotzdem richtig Spaß macht, liegt an den vielen Möglichkeiten der Problemlösung und Infiltration.
Man kann auf Knopfdruck als Fisch durch Kanäle schwimmen, als Ratte problemlos durch Schächte wuseln und sich wieder zurückverwandeln. In der Haut eines Menschen kann Corvo zwar nicht kämpfen, aber er kann kurzfristig mit ihm an seinen Kollegen vorbei schlendern und vielleicht eine Tür öffnen, dahinter einen Schalter bedienen oder eine Leitung sabotieren, so dass einem Politiker in der Sauna etwas zu heiß wird – ein geschickt eingefädelter Unfall. Sehr schön: Sobald er den Fremdkörper verlässt, ist der Eigentümer für ein paar Sekunden verwirrt – man entdeckt immer wieder kleine Feinheiten, die das Potenzial dieses Abenteuers auch auf der Verhaltensebene andeuten. Sehr böse: Wenn eine Wache schießt, hält man die Zeit an, so dass die Kugel schon in der Luft schwebt. Dann übernimmt man den Körper der Wache und läuft mit ihr zurück an den Ort, auf den sie selbst gezielt hat. Wenn man sie jetzt verlässt, wird sie von ihrer eigenen Kugel erledigt…
Das macht Spaß, gar keine Frage – und erlaubt in Tierform tolle alternative Wege! Aber warum begegnet man beim Teleportieren oder in Verwandlung nicht wenigstens punktuell mehr Gefahren oder Hindernissen? Richtig schade ist, dass die Balance aufgrund der fehlenden Beschränkungen für das eigene Vorgehen sowie der schwachen Wachroutinen irgendwann so kippt, dass manche groß angekündigte Infiltration nahezu lächerlich einfach zu meistern ist. Nicht nur, weil man meist so viel Geld hat, dass man sich im Hauptquartier mit genug betäubenden Bolzen, Heil- und Manatränken eindecken kann – man findet quasi überall Zaster. Sondern auch deshalb lächerlich, weil eine Mission von „streng bewachtem Gebäude“ oder „paranoidem Verfolgungswahn“ des Besitzers spricht und es einem dann innerhalb der Mauern so leicht gemacht wird.
Auf dem Sicherheitsauge blind

Das große Problem der KI ist nicht einmal, dass sie herum liegende Waffen, fehlende Wachen oder offene Türen nicht ahndet, indem sie abseits eines löblichen Kommentars à la „Moment, hier sollte doch eine Patrouille sein!“ auch mal nachforscht. Und sie reagiert ja durchaus gut auf Geräusche und Sichtkontakt über ein mehrstufiges Alarmierungssystem, das leider zu schnell wieder auf Routine schaltet. Das Problem ist, dass sie selbst deaktivierte Sicherheitsmechanismen ignoriert, die zentral zum Schutz aufgestellt wurden. Es gibt eine Mission, in der man das angeblich sehr gut gesicherte Haus einer Schlüsselfigur, die schon mit Corvos Ankunft rechnet, mit wenigen Teleports und Würgereien komplett von Wachen und Fallen befreit.
Der tyrannische Lordregent, der entfernt an Max Schreck in Nosferatu (1922) erinnert, steht dann an seiner der Balustrade, schaut nach unten und reagiert wie? Gar nicht darauf, dass da eben noch seine Leute was sichern sollten und jetzt niemand unterwegs ist. Noch schlimmer: Er selbst wird als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten so schlecht bewacht, dass man ihn problemlos überwältigen kann – und weg ist der Schreck. So herrlich das Abenteuer aussieht, so stimmungsvoll es inszeniert wird, so anspruchslos fühlt es sich in diesen wichtigen Momenten gerade für Freunde der subtilen Infiltration an; leider auch im Finale sowie in den wenigen Bosskämpfen gegen besondere Charaktere. Auch der optionale Taschendiebstahl mutiert irgendwann zur Farce: Auf dem gut besuchten Maskenball kann man ausnahmslos jeden Besucher ohne Reaktion bestehlen – selbst vor den Augen von Wachen. Und schon vorher darf man sich in jedem privaten Raum bedienen; selbst bei Admiral Havelock, der genug Gründe für Diskretion hätte.