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Disco Elysium (Rollenspiel) – Rollenspiel der Unterhaltung

Der Held erwacht auf dem Boden seines Zimmers, in dem er nachts zuvor sturzbesoffen zusammengebrochen ist. Von wegen Held! Man gibt ihm nicht mal einen Namen, sondern kennt seinen einfach nicht. Einen Partner hat er aber: Kim. Die beiden sollen einen Todesfall aufklären. Na, dann: Ich erzähle Kim, dass ich mich an absolut nichts erinnern kann, in Wirklichkeit gar kein Polizist bin, aber ein Disco-Superstar und lüge ihm vor, dass ich die Dienstmarke selbstverständlich bei mir habe. Er will das alles gar nicht wissen, aber so leicht kommt er mir nicht davon. Dieses Disco Elysium ist genau mein Humor! Und nach dem Test auch genau mein Spiel.

© ZA/UM / Humble Bundle / iam8bit

Besser noch: Steigert man einige der 24 Fähigkeiten weit genug, geraten die dem abgehalfterten Alkoholiker nicht nur zum Vorteil, sondern lassen ihn stellenweise glatt verrückt erscheinen. Man unterhält sich ja sogar mit den Charakterzügen. Ganze Dialogäste drehen sich um den Plausch mit sich selbst, was mitunter zum Öffnen weiterer Aufgaben führt. Nicht zuletzt erhält man je nach Entwicklung der Eigenschaften zusätzliche Informationen über die Umgebung.

Ein bisschen sexy

So nimmt man die Welt wahr, wie sie die Eingebungen beschreiben. Man lernt einen Mann kennen, der nicht nur verschiedene Interaktionen unterschiedlich gut ausführt, sondern sich auch erzählerisch über die Charakterentwicklung definiert. Und es ist klasse, wie die große Handlungs- und Gestaltungsfreiheit beim Verkörpern der Figur mit einer ausgefeilten Charakterzeichnung zusammenkommt! Denn tatsächlich erfährt man irgendwann auch Persönliches, teils Tragisches, das ihm eine starke emotionale Seite verleiht. So viele Tränen ich hier auch gelacht habe, so sehr habe ich Kim und den armen Schlucker irgendwann ins Herz geschlossen.

Die große Freiheit bei der Auswahl von Dialogoptionen ist für mich dabei das Besondere, da man vom Vollpfosten bis hin zum Supermacho viele Facetten einer Person verkörpern kann. Und wie gesagt: jene prächtige alberne Idiotie, die mich an eine entschleunigte Version von Sterling Archer erinnert. Als ich die Möglichkeit hatte ein Kind, das ich noch nie zuvor getroffen hatte, mit „I am the law!“ anzusprechen, habe ich jedenfalls nicht lange gezögert.

Wer Disco Elysium spielen will, sollte über Englischkenntnisse verfügen, die über das Schulenglisch hinausgehen. Zum einen führt man sehr viele lange Gespräche und zum anderen wurde das Rollenspiel nicht übersetzt.

Schade auch, dass man nicht gemütlich mit Gamepad spielen kann, sondern an Maus und Tastatur gebunden ist. © 4P/Screenshot

Und dann musste ich Kim noch ein paar Fragen stellen: Findet er nicht auch, dass es sich um einen ziemlich mysteriösen Fall handelt? Nein? Ich meine einen wirklich sehr mysteriösen Fall! Er möchte gerne das Thema wechseln. Aber ein bisschen sexy ist die Sache schon, oder? Diesen Blick wird er mir noch häufiger zuwerfen. Lange war es dann jedenfalls eine meiner Aufgaben, Kim davon zu überzeugen, dass dieser Fall doch irgendwie sexy und geheimnisvoll ist…

Aller Anfang…

Nur mit dem Einstieg hat es mir ZA/UM nicht leicht gemacht. Da musste ich nämlich gleich mehrmals das Zeitliche segnen. „Musste“, weil viele Game Over weder vorhersehbar noch vermeidbar sind, falls man nicht zu Beginn schon über bestimmte Fähigkeiten verfügt. Nun ist es nur logisch, dass sich ein physisch schwacher Charakter einen Zeh einhaut, wenn er gegen den erwähnten Briefkasten tritt. Dass seine Reise deshalb aber glatt endet, ist spätestens nach drei solcher Abbrüche nicht mehr ganz so lustig.

Immerhin wirkt man dem Schwächen der körperlichen und geistigen Stärke entgegen, indem man binnen weniger Sekunden das jeweilige Gegenmittel aktiviert. Das ist ein interessantes Element und bringt mich dazu, Fundgegenstände im Antiquariat zu verhökern oder mit einer gelben Mülltüte herumzulaufen, um alte Flaschen aufzulesen und ins Recycling zu stecken – eine köstliche Variante des modernen Sammelwahns! Sogar die zur Lösung mancher Aufgaben benötigten Objekte darf man übrigens verkaufen. Um anfänglichem Frust vorzubeugen wäre es nur schön, wenn man zu Beginn schon zwei oder drei Heilmittel dabeihat, anstatt ohne loszulegen.

Spieldesign vs. Spielerleben

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Das Nachdenken über freigeschaltete Themen ermöglicht nach einigen (Spiel-)Stunden das Aktivieren von Perks, also Charaktereigenschaften mit markanten Vor-, aber auch Nachteilen. © 4P/Screenshot

Und auch das zentrale Dialog-, Würfel- bzw. Speichersystem ist nicht ohne Schwächen, da man zum einen den Großteil fast aller Unterhaltungen beliebig oft wiederholen kann, um etwa sämtliche Gesprächsoption durchzuklicken. Das mag ganz praktisch sein, raubt ihnen aber auch einen Teil des sonst so Glaubhaften. Zum anderen kann man jeden Wurf durch hartnäckiges Speichern-Würfeln-Neuladen… so lange wiederholen, bis er irgendwann funktioniert. Ich verzichte darauf, weil ich gerade in der Rolle dieses abgewrackten „Superstars“ (wenn man ihn so spielt, hält er sich ja selbst für einen – eine traurige Karaoke-Nummer unterstreicht das nur) unheimlich gerne erzählerische Konsequenzen durchlebe. Unterm Strich ist Disco Elysium aber eben nicht nur als eine lebendige virtuelle Welt erkennbar, die gerade ein Videospiel so überzeugend erschaffen könnte.

Im Gegenzug spornt die offene, komplett klassenfreie Charakterentwicklung zum Experimentieren an, weil man nicht nur Erfahrungspunkte in höhere Werte investiert, sondern damit auch besondere Eigenschaften aktiviert, die bestimmte Fertigkeiten auf Kosten anderer steigern. Zusätzlich nimmt man Drogen, um auch hier im Austausch bestimmte Werte andere kurzzeitig zu verbessern. Und zu guter Letzt beeinflussen sogar Kleidungsstücke die Fähigkeiten – weshalb man gelegentlich leider schon mal das gesamte Inventar nach Jacken, Hosen, Hüten und mehr durchwühlt, um die Erfolgschancen eine Würfelprobe zu verbessern. Oder erspart man sich das, um es durch Schnellspeichern einfach mehrmals zu probieren? So motivierend das System grundsätzlich ist: Wirklich elegant ist es leider nicht.