Geschichte der Geschichten
Das Erzählen erdachter Geschichten ist eine der ältesten Kommunikationsformen der Menschheit. Erzählt wird nicht erst mit Erfindung des Films oder des Buchdrucks, schließlich dürften sich seit jeher fiktive Elemente in die Erlebnisberichte von Männern geschlichen haben, wenn sie von der Jagd heimkehrten. Auch gespielt wird schon sehr lange: Das erste Brettspiel namens Senet datieren Historiker auf rund 3.200 vor Christus.
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Im vergleichsweise jungen Medium Videospiel war die Entwicklung des Geschichtenerzählens lange abhängig vom technisch Machbaren durch Darstellbarkeit und Speicherplatz. Obwohl beide Aspekte längst keine Rolle mehr spielen, bewegen sich Videospiel-Storys oft immer noch bestenfalls auf dem Niveau mittelmäßiger Filme. Das mag daran liegen, dass die Geschichte gegenüber der Interaktivität in aller Regel die zweite Geige spielt. Oder um das bekannte Zitat des id-Gründers John Carmack ins Gedächtnis zu rufen:
„Die Geschichte im Videospiel ist wie die Geschichte im Pornofilm: Man erwartet, dass es eine gibt, sie ist aber nicht wichtig.“ Andersrum: Wo die Story im Mittelpunkt steht, leidet das Spielerische. So sind die Abenteuer aus David Cages Studio Quantic Dream (Detroit: Become Human, Heavy Rain) kaum mehr als interaktive Filme, in denen der Spieler Entscheidungen über den weiteren Verlauf der Handlung trifft.
Ein ungewöhnlicher Tag im Büro
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The Stanley Parable: Ultra Deluxe erzählt die Geschichte des Büroarbeiters Stanley, dessen einzige Aufgabe es ist, in seinem Büro Nummer 427 am Computer die Tasten zu drücken, die der Bildschirm vorgibt. Als Stanley bemerkt, dass er alleine im Gebäude ist, begibt er sich auf die Suche nach seinen Kolleginnen und Kollegen. Wie er das bemerkt? Ein Erzähler aus dem Off sagt uns, dass es eben so ist. Als artig konditionierte Befehlsempfänger, die wir Videospieler oftmals sind („Drücke X, um Respekt zu zollen!“), gehorchen wir der charismatischen Stimme und folgen den Worten des Erzählers in der Ego-Perspektive durch den verlassen anmutenden Bürokomplex. Bereits nach wenigen Minuten erreichen wir mit Stanley so das Ende des Spiels.
Klingt langweilig? Dabei führt genau dieser Gehorsam zum offiziellen und positivsten Ende des Spiels. Interessant wird The Stanley Parable allerdings erst, wenn wir alte Gewohnheiten hinter uns lassen. Auf unserer Erkundungstour gelangen wir bald in einen Raum mit zwei Türen. Der Erzähler lässt uns wissen, dass Stanley durch die linke geht. Aber was mag geschehen, wenn wir unseren Gehorsam verweigern, vom vorgegeben Pfad abweichen und frech durch die rechte Pforte treten? Immerhin haben wir es mit einem Videospiel zu tun, können tun, was wir wollen und sind doch zu freien Entscheidungen fähig. Oder etwa nicht?
Stanley will nicht gehorchen
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Statt Euch weiter mit Exkursen zu langweilen, kommen wir auf den Punkt: The Stanley Parable bezieht seinen wesentlichen Reiz aus unserer und damit aus Stanleys Widerspenstigkeit. Denn wann immer wir eben nicht das tun, was die allgegenwärtige Stimme diktiert, wird der Walking-Simulator erst richtig interessant und vor allem: urkomisch. Sichtlich irritiert beschwert sich der Erzähler über Stanleys Versuche, seine Geschichte zu sabotieren. Wer statt nur reflexartig zu ballern in Videospielen auch gerne mal sein Handeln reflektiert und verkopfte philosophische Überlegungen anstellt, sollte an The Stanley Parable: Ultra Deluxe seine helle Freude haben.