Klettern auf dem Koloss
…auf Fell und Fleisch – Glück gehabt. Ich ruhe mich aus, schöpfe Kraft, kletter wieder hoch. Nach einem halsbrecherischen Lauf erreiche ich endlich den hinteren Teil des Schweifs, gehe in die Knie, zücke mein Schwert, hole weit aus und steche zu: Kalter Stahl frisst sich in Fleisch, während mir eine schwarze Blutfontäne entgegen spritzt. Das Ungeheuer kreischt vor Wut und stürzt in einen wilden Sinkflug. Man kann den Schmerz fast nachempfinden und leidet ein wenig mit, zumal man hier etwas Uraltes und Heiliges verletzt hat. Welchen Preis muss man dafür zahlen? Ich habe es jedenfalls schwer getroffen, aber nur verletzt, nicht getötet. Und jetzt das: Das blaue Glimmen verschwindet! Aber ganz vorne am Flügel entsteht ein neues Glühen. Verdammt, wie soll ich da hinkommen?
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Später gibt es einen weiteren fliegenden Koloss, der noch beeindruckender ist. Er fliegt wie ein urtümlicher Drache durch die Wüste, taucht in den Sand und kann nur aus vollem Galopp heraus bestiegen werden. Das sind Momente, die man auch im Jahr 2018 nicht so schnell vergisst, denn es gibt einfach nichts Vergleichbares – und das nach so langer Zeit! Manche wie Castlevania: Lords of Shadow haben es mit ihren Bossen versucht. Und auch wenn sich kürzlich The Legend of Zelda: Breath of the Wild sehr stark von diesem Prinzip inspirieren ließ, erreichen dessen ebenfalls spektakulär designten Endgegner nicht diese Intensität des Augenblicks. In Zelda erkunde ich sie eher, hier kämpfe ich um jeden Meter. Es gibt also immer noch nichts, das diese Adrenalinkicks auslöst, die während der spektakulären Drahtseilakte auf, unter und an riesenhaften Kreaturen entstehen. Deshalb muss ich die technische Leistung einfach nochmal betonen: Man kämpft, klettert und springt durch lebende Levels im Level; Held und Monster bewegen sich parallel.
Hinzu kommt die hervorragende Pferdedarstellung, denn Agro wirkt vom Huf bis zur Mähne angenehm lebendig. Sie scheut sowohl vor dem Bogen des Jungen als auch vor Abgründen, bremst ab, schnauft, schüttelt sich, bäumt sich auf, genehmigt sich eigenständig einen Ausritt und trinkt an Teichen, reagiert auf meinen Pfiff, beherrscht alle Gangarten und steuert sich nicht so widerstandslos wie ein Fahrzeug, sondern wie ein Lebewesen mit eigenem Willen: Ich muss die Zügel mit dem Analogstick nach hinten ziehen, damit sie zur Ruhe kommt, was nach einem Galopp wesentlich länger dauert. Und für eine spektakuläre Vollbremsung, bei der sie die Hinterläufe einsetzt, braucht es gutes Timing. Ich kann mich für Kunststücke auf den Sattel stellen und stehend weiterreiten.
Trauer & Entschlossenheit
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Aber es geht hier trotzdem nicht nur um diese grandiose Technik, sondern vor allem um die immer noch einzigartige Ästhetik: Schon das Intro lässt ein Gefühl von wehmütiger Tragik aufkommen, das weit entfernt ist von billigem heroischem Popanz. Ich habe diese Einleitung zig mal angeschaut und sie hat ihre Wirkung auch 2018 nicht verloren. Ohne große Worte wird man Teil einer ganz besonderen, nahezu sakralen Stimmung. Man kann die Trauer spüren, die sich zusammen mit stillen, aber eindringlichen Melodien ins Tal ergießt. So viel Pathos kann natürlich verdammt gefährlich sein. Es kann sich fast lautlos so gewaltig aufbäumen, dass Held und Story unter seiner Last zerbrechen. Auch hier gibt es Augenblicke, in denen die mitunter an Dark Souls erinnernde Monumentalität fast schon erdrückend wirkt – man hat das Gefühl, wie ein Wurm durch das Tal der Sieben Weltwunder zu kriechen. Aber in welchem Spiel hatte man das schon? In welchem Spiel braucht man länger als zehn Minuten, um sich einen Reim auf die Welt zu machen oder sie zu durchschauen? Hier ist es so, dass man sich noch zig weitere Spiele wünscht, die hier stattfinden! Es gibt ja nicht nur einen künstlerischen roten Faden zwischen ICO, Shadow of the Colossus und The Last Guardian, sondern auch einen inhaltlichen, der die Konzeption der Welt und ihre Mythen betrifft. Kaum komme ich an einer verwitterten Ruine vorbei, würde ich sie gerne wie in ICO erkunden! Kaum hockt man auf einem der Kolosse, würde ich ihn gerne wie im letzten Spiel von TEam ICO zähmen. Fumito Ueda hat ein Tor geöffnet, durch das man hoffentlich irgendwann nochmal gehen kann.
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Schade ist vielleicht, dass die Reihenfolge der Gegner festgelegt ist. Schön ist jedoch, dass man den nächsten Zielort ignorieren und einfach drauflosreiten kann – man wird nicht durch künstliche Levelschläuche gezwängt, darf frei nach Norden, Süden, Osten oder Westen ziehen. Auf der Suche nach dem nächsten Kampf reitet ihr durch eine Landschaft, die vor allem in ihrer Vielfalt fasziniert. Freut euch auf rotsandige Wüsten, weite Steppen, sanfte Hügel oder zerfurchte Schluchten mit verträumten Seen. Obwohl es auch im Remake keine Menschenseele oder gar Dörfer und Quests gibt, gibt es einiges zu entdecken – darunter auch funkelnde Geheimnisse an besonderen Orten, die es im Original nicht gab; es gibt übrigens nicht nur mit den blauen Schmetterlingen eine subtile Hommage an The Last Guardian.
Ihr könnt wie gehabt Eidechsen mit dem Bogen jagen und ihr Fleisch verspeisen, um eure Ausdauer dauerhaft zu erhöhen. Übrigens: Zielt ihr nur auf den blauen Schwanz, bleibt sie am leben! Oder ihr schießt Früchte von Bäumen, um eure Gesundheit permanent zu steigern. Außerdem trifft man in jeder Region auf andere Tiere: Mal sind es Möwen, mal Fledermäuse oder Schildkröten, die in eurer Nähe den Kopf einziehen. Ihr könnt an Fischen zappelnd unter Wasser schwimmen oder euch von Falken in die Lüfte tragen lassen. Ab und zu begleiten sie euch im eleganten Gleitflug. Das sind stille, fast schon majestätische Momente.