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Fallout 4 (Rollenspiel) – Endzeit in Neuengland

Wer hätte 1997 gedacht, dass man über ein Spiel namens Fallout im Jahr 2015 überhaupt noch diskutieren würde? Achtzehn Jahre später lockt das radioaktiv verseuchte Amerika weiter Rollenspieler an. Und die bizarre Endzeit ist mit Vault und Pip-Boy längst ein Teil der Gegenwartskultur. Die wichtige Frage für Abenteurer ist, ob Bethesda mit seiner offenen Welt begeistern kann. Wie uns Fallout 4 gefallen hat, klärt der Test.

© Bethesda Game Studios / Bethesda Softworks

Die Ästhetik der Endzeit

Ich erklimme einen Hügel. Mein Schäferhund bellt und prescht vorwärts. Als ich oben ankomme, blicke ich auf eine Landschaft aus Trümmern im diffusen Morgenlicht. Da liegt ein riesiger Jumbojet wie ein Kadaver, den man in drei Teile zerhackt und vom Himmel geworfen hat. Irgendwo zwischen all den Koffern, Stahlträgern und Leichen wühlen mutierte Kreaturen. Warum bleibe ich jetzt stehen und lass die Kamera über dieses Gelände streifen, das Zerstörung und Tod zeigt? Warum gehe ich später langsam durch die menschenleeren Gassen von Boston, um mir hier eine Leuchtreklame oder da eine Polizeistation näher anzusehen? Warum beeindruckt mich ein radioaktiver Sturm?

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Charaktererstellung am lebenden Subjekt: Ihr habt die Wahl zwischen Mann oder Frau. © 4P/Screenshot

Diese Endzeit besitzt eine ganz eigene Ästhetik. Obwohl der Geigerzähler brummt und die Ghule fauchen, strahlt das Amerika an der Ostküste nicht nur reichlich Gamma aus, sondern auch eine Schönheit, in der das alte Neuengland sowie das moderne Boston samt seiner Wahrzeichen unter all dem Schutt des Atomkrieges erkennbar wird. Bethesda inszeniert diese früh kolonisierte Region in all ihrer Vielfalt von der stürmischen Küste mit ihren Häfen und Herrenhäusern über das hügelige Hinterland mit seinen Wäldern und Flüssen bis hin zu all den kleinen Höfen, Siedlungen und Vorstädten, die das ehemalige Boston wie Satelliten umgeben. Die Metropole selbst ist ein Zeit fressendes Monster, denn hinter jedem Block lauert ein mehrstöckiges Gebäude, so werden Hochhäuser wie der Trinity Palace zu Dungeons mit zig Gefahren und Schätzen.

Artdesign schlägt Technik

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Auch in der heilen Welt des Jahres 2077 gibt es schon Soldaten in Kampfanzügen. Die eigene Familie hat Glück, das sie kurz vor dem nuklearen GAU noch in den Atomschutzbunker darf… © 4P/Screenshot

Im Vorfeld wurde viel über die Grafik gejammert. Aber Licht, Artdesign und Architektur – all das schlägt immer die Textur. An der reinen Oberfläche à la Ryse habe ich mich schnell sattgesehen, alles ist ganz toll aufgelöst, aber es wirkt steril.  In Fallout 4 mag der Kachelglanz hier oder die Holzmaserung da ernüchtern, aber das große Ganze besitzt starke künstlerische Ausdruckskraft. Bethesda kann ich die technischen Schwächen en detail, auch Bildratenprobleme sowie all die Clippingfehler deshalb schnell verzeihen, weil sie Meister der Inszenierung sind.

Sie stellen nicht nur Landschaft, Kulisse und auch Gegenstände unheimlich stimmungsvoll dar –  ich ertappe mich dabei, wie ich die cool designte Lasermuskete oder die Plasmapistole im Ladebildschirm langsam drehe – sondern erzählen mit all dem Geschichten. Der Hügel mit dem Flugzeugwrack war nur einer von vielen. Hier habe ich das Gefühl, dass ich an jeder Ecke etwas entdecken kann. Jedes Gebäude von der Irrenanstalt bis zur Kaserne, vom Hexenmuseum bis zur Brauerei birgt eine Story, jeder Schritt kann einen tiefer in diese authentische, manchmal wahnsinnige, aber immer mit den Augen zwinkernde Welt hineinziehen. Der schwarze Humor ist bei all der Brutalität eine wichtige Konstante, die Fallout seit 1997 auszeichnet.